Mähr, Christian
Alles Fleisch ist Gras Roman
Buch: Dichtung

Ein Fleischwolf als Wunschmaschine Christian Mährs Roman "Alles Fleisch ist Gras" Sollte jemals ein Preis für die beste literarische Szene ausgelobt werden, in der ein Mann seiner Gattin eine Affäre gesteht - Christian Mähr wäre ein Anwärter. Man mag seinem jüngsten Roman "Alles Fleisch ist Gras" mit Skepsis begegnen, aber diese eine Szene alleine rechtfertigt die Lektüre. Darin beichtet der Chef einer Kläranlage, Anton Galba, seiner Frau, dass er in einem Moment der Schwäche mit einer blutjungen Mitarbeiterin ins Bett gestiegen, besser gesagt in den Wald gegangen ist. Daraus war ein monatelanges Techtelmechtel geworden. Aber weil Gatte und Gattin sich auseinander gelebt haben und sexuell zwischen den beiden ohnehin nicht mehr viel läuft, trägt die solchermaßen Betrogene ihr Schicksal gelassen. Doch die Etikette schreibt etwas anderes vor: Empörung und Verzweiflung. Mähr lässt Anton Galba in Gedanken wie aus dem Off die "Theatervorstellung" der beiden kommentieren. Die Hauptdarstellerin ist grottenschlecht, der Wurf mit dem teuren Porzellanhäferl gerät ihr zur lästigen Pflichtübung, genauso wie das Schluchzen und der eben gar nicht dramatische Abgang. Galba selbst kann das mit seiner lustlosen Darbietung des zerknirschten Ehemannes nicht wirklich überbieten. Das von ihm imaginierte Publikum muss trotz der programmierten Dramatik der Szene lachen, weil die Vorstellung zur Groteske verkommt. All das spielt sich aber nicht am Anfang des Romans, sondern in weit fortgeschrittener Handlung ab. Da ist man längst in einem überdrehten Thriller gefangen, der auf humorvolle Weise die Moral der ehrwürdigen Vorarlberger Gesellschaft in Frage stellt. Das Grundgerüst von "Alles Fleisch ist Gras" erinnert an die psychologischen Krimis einer Patricia Highsmith. Galba wird von einem Mitarbeiter zur Rede gestellt, der ihn beim Seitensprung mit einem Nachtsichtgerät fotografiert hat. Nach einem Schubser seines Chefs fällt der Techniker unglücklich die Treppe hinab und stirbt, woraufhin Galba ihn im Fleischwolf des Klärturms entsorgt. Der Spanner, der noch dazu ein Nazi war, wird rückstandsfrei zu Düngemittel verarbeitet. Kommissar Nathanael Weiß kommt seinem ehemaligen Schulkameraden Galba auf die Schliche, hält aber dicht - unter einer Bedingung: Er muss ihm helfen, Ludwig Stadler auf die gleiche Weise aus dem Weg zu räumen. Denn Stadler, ein rücksichtsloser Bauunternehmer, hat ihm die Frau ausgespannt. Durch den Mord kommt Weiß auf den Geschmack. Als Polizist kennt er einige Verbrecher, gegen die die Polizei machtlos ist, Menschen, die seiner Meinung nach niemand vermissen würde, denen aber mit dem Gesetz nicht beizukommen ist. Warum nicht einen Mann töten, der seine Frau schlägt, die vor einer Anzeige zurückschreckt, oder einen Drogendealer, der zu mächtig ist, um an ihn heranzukommen? Galba will da nicht mehr mit, aber Weiß lässt ihm keine Wahl, und alle, denen sich Galba anvertraut, können der Idee der Selbstjustiz etwas abgewinnen. Die Handlung gerät zu einer schwarzen Screwball-Comedy, in der schließlich jeder jeden zu töten versucht und die Grenzen zwischen Gut und Böse außer Kraft gesetzt sind. Der Fleischwolf wird dabei zur Wunschmaschine einer mordlustigen Gesellschaft: Auf Knopfdruck werden Leichen zermalmt und ein Selbstreinigungsmechanismus erledigt die Vernichtung möglicher Beweise. "Alles Fleisch ist Gras", heißt es in der Bibel und irgendwann wird aus den Rückständen des vorgeblichen Unrats der Gesellschaft rund um Dornbirn Gras wachsen. Schuld laden nicht nur jene auf sich, lautet eine mögliche Moral der Geschichte, die ganz offensichtlich gegen die Sitten und Gesetze verstoßen, sondern auch jene, die sich als Richter aufspielen und glauben, durch ihre unfehlbaren, durch Konsens abgesicherten Urteile über alles und jeden Macht ausüben zu können. Wer würde vor Mord zurückschrecken, wenn dieser nicht geahndet würde, wenn es eine Carte Blanche für sühnefreies Meucheln gäbe? Christian Mähr hält den Spannungsbogen in diesem Wirrwarr an Mordgeschichten aufrecht, indem er bis zuletzt die Frage offen lässt, ob Galba nun aus dem Schlamassel herauskommen wird oder nicht, oder ob er am Ende selbst zermalmt im Klärbecken landet. Zwischendurch glänzt der Text durch hochkomische Szenen wie jene mit dem Untreuegeständnis, aber auch durch kluge Betrachtungen zwischenmenschlicher Vorgänge. So geht es etwa mehrfach um die Frage, ob Frauen für die Wahl ihrer Partner selbst verantwortlich sind. Der herrschenden Männermeinung nach nicht: Sie werden verführt und sind solchermaßen Opfer des Schicksals. Für Kommissar Weiß wäre es eine zu große Zumutung, sich einzugestehen, dass sich seine Gattin bewusst gegen ihn entschieden hat. In diesem Punkt trifft sich sein Frauenbild mit jenem des verwirrten Nazis, der eine Entschuldigung für Galbas Geliebte sucht, auf die er selbst ein Auge geworfen hat. Christian Mähr, im Hauptberuf Chemiker und Wissenschaftsredakteur des ORF, bewegt sich in seinen bislang zehn, großteils phantasiegetränkten Büchern immer wieder an der Grenze zwischen Realität, Science Fiction und blankem Irrsinn. Im Feuilleton wird ihm große Kunstfertigkeit beschieden, aber auch ein Hang zur unnötigen Übertreibung. Mitunter hat man als Leser von "Alles Fleisch ist Gras" ebenfalls den Eindruck, dass weniger mehr gewesen wäre. So scheint die Parallele zur mittelalterlichen Femegerichtsbarkeit, die überstrapaziert wird, verzichtbar. Alles in allem aber ist Mährs jüngster Roman Unterhaltung auf hohem Niveau. Und er regt die Phantasie an: Was, wenn man selbst über einen solchen Fleischwolf verfügte?


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Personen: Mähr, Christian

Schlagwörter: Neuere österreichische Literatur Autor <Österreich> österreichische Literaur <Neuere>

Mähr, Christian:
Alles Fleisch ist Gras : Roman / Christian Mähr. - Wien : Deuticke, 2010. - 397 S.
ISBN 978-3-552-06127-9 fest geb. : ca. Eur 20,50

Zugangsnummer: 0024601001 - Barcode: 0000445009
Kriminalromane - Signatur: DR.D Mähr - Buch: Dichtung