Gleitzman, Morris
Einmal
Buch: Kinder/Jugend

"Es war einmal" - so beginnen viele Märchen, und das sind manchmal dramatische und oft prächtige Geschichten mit meist gutem Ausgang, immer aber erfundene Begebenheiten. Der vorhersehbare Sieg des Guten über das Böse ist bei Märchen bei allem möglichen Gruseln stets von Neuem Anlass zu wohligem Aufgehoben-Fühlen und dankbarer Zufriedenheit. "Einmal" heißt auch dieses Buch, und es berichtet ebenfalls von erfundenen Begebenheiten, auch wenn diesen wenig Märchenhaftes zu eigen ist, wohl auch der Sieg des Guten mehr als fraglich ist. Diese "Erfindung" hat aber nichts mit Fantasieprodukten zu tun, destilliert sie doch aus zahllosen Details und Schicksalen der realen Geschichte einen kurzen Lebensabschnitt eines etwa Zehnjährigen heraus, der durchaus so ähnlich passiert sein könnte, vielleicht sogar passiert ist. Es ist eine Ich-Erzählung des Jungen Felix aus dem besetzten Polen des Jahres 1942. Felix ist Jude, Sohn eines Buchhändlerehepaares und zu seinem Schutz seit 1939 fern von seinen Eltern in einem katholischen Waisenhaus untergebracht, um dort den Nachstellungen der Nazis zu entgehen. Seine besondere Fähigkeit liegt darin, seinem Namen (Felix = der Glückliche) alle Ehre zu machen: Er findet in jedem Problem, in jeder Gefahr und in jeder Not das winzige Etwas, das ihm dabei stets noch als "Glück" erscheint. Als er eines Tages die Verbrennung angeblich "jüdischer" Bücher im Klosterhof durch Nazisoldaten ansehen muss, reift in ihm der Plan, die heimischen Buchbestände seiner Eltern, die ja anscheinend auch von den Schergen bedroht werden, verstecken und retten zu wollen und dabei gleichzeitig seine Eltern wiederzusehen. Er flüchtet und findet den Weg zu seiner Heimatstadt. Diese Flucht aber nimmt ihm den relativen Schutz durch das Waisenhaus und die katholische Umgebung, bringt ihn in Berührung mit den eigentlichen Verbrechen der Nazis, die sich mit dem Verbrennen von Büchern längst nicht mehr zufriedengeben. Was eigentlich hinter den Nazis steckt, erschließt sich dem naiven und bisher aufgeschlossenen Felix erst nach und nach in Splittern des Erkennens, bis er entdeckt, dass Judenhass und Besatzerwillkür auch nach seinem Leben trachten. Mehr und mehr wird aus dem kleinen Träumer ein gejagtes, aber im Rahmen der Möglichkeiten immer wieder geschickt entwischendes Opfer. Er verliert seine kindliche Weltsicht und wird in wenigen Wochen "erwachsen", ohne dabei seine Menschenliebe und Hilfsbereitschaft zu verlieren. In dieser Zeit kommt er ins Getto, erlebt dessen Auslöschung und Zerstörung und die irritierende Zerrissenheit der Nazis, die blitzschnell von privater Menschlichkeit auf professionelle Mordlust umschalten können. Er wird am Ende überleben, doch er hat Dinge erlebt, die kein Kind jemals erleben sollte, umgekehrt jedoch auch Mitmenschen kennengelernt, die ihm den Gegenentwurf aufscheinen lassen. Und bis zum Schluss bleibt er ein genauer Beobachter, dessen lakonische Präzision seltsam mit seiner oft gutmütigen Naivität kontrastiert. Doch gerade dieser Kontrast macht diese Geschichte so eindrucksvoll und emotional mehr als anrührend. Immer wieder gelingt es kaum, beim Lesen den Kloß in der Kehle hinunterzuschlucken, aber niemand sollte sich hier seiner Tränen schämen. Das Prinzip, das Grauen der Naziverbrechen aus dem Blickwinkel eines "unschuldigen" Kindes fast wie ein Spiel zu schildern, dessen Bedeutung sich nur dem "erfahrenen" Großen erschließt, kennt man unter anderem schon aus dem "Jungen im gestreiften Pyjama". Und viele ach so erwachsene Kritiker haben sich gegen diese Darstellungsart als angeblich verharmlosend gewehrt. Mir scheint auch nach diesem Buch, dass das Ausmaß an emotionaler Tiefenwirkung, das hier entsteht, stärkere eigene Erkenntnisprozesse in Gang setzt als viele realistisch-erwachsene Schilderungen, deren ungeschminkte Brutalität irgendwann nur noch auf inneren Widerstand trifft. Weder die eine noch die andere "Methode" sind wirklich in der Lage, auch nur ungefähr nachvollziehbar zu machen, was in diesen unseligen Jahren von deutscher Hand passierte, doch "fühlbarer" wird hier, dass es nicht nur die Vernichtung des Lebens gab (so furchtbar diese war), sondern vieles andere bereits vorher starb, was "menschlich" hätte sein sollen. Und keiner, der dieses Buch wirklich gelesen hat, kann sagen, hier würde irgendetwas "verharmlost". "Es war einmal", so begann diese Rezension. Und wir können alle gemeinsam nur hoffen, dass sowohl die ausdrückliche Verortung dieser Geschehnisse in der Vergangenheit Wahrheit wird wie auch der Wunsch, dass die schreckliche Zeit, von der dieses Buch Zeugnis gibt, "einmalig" bleibt, sich also niemals wiederholen möge. Dazu braucht es mehr als ein Buch leisten kann, aber hier wird bereits sehr jungen Lesern wenigstens eine Ahnung vermittelt, wozu Menschen in der Lage sind, im Guten wie im Bösen. Danke für diese Lektion! *Alliteratus* Bernhard Hubner


Dieses Medium ist verfügbar. Es kann vorgemerkt oder direkt vor Ort ausgeliehen werden.

Personen: Gleitzman, Morris Glutzschhahn, Uwe-Michael (Übers.)

Schlagwörter: Taschenbuch Juden Nationalsozialismus Flucht Zweiter Weltkrieg Autor <England> Weltkrieg 2. <1938 -1945> Literaturpreis <Deutscher Jugendliteraturpreis> Autor <Australien>

Interessenkreis: Jugend

Gleitzman, Morris:
Einmal / Morris Gleitzman. - Dt. Erstausg. - Reinbek bei Hamburg : Carlsen-Verl., 2009. - 187 S. - Aus dem Engl. übers.
ISBN 978-3-551-35862-2 kart. : Eur 9,20

Zugangsnummer: 0018331001 - Barcode: 0000381581
Geschichte ab dem 20. Jahrhundert - Signatur: JE.GE Glei - Buch: Kinder/Jugend