Habringer, Rudolf
Leirichs Zögern Roman
Buch: Dichtung

Wie Ahnungen und Geheimnisse unser Leben bestimmen. (DR) Die Macht der Geheimnisse Der Vater ist vor zwanzig Jahren verstorben, die Familiengeschichte mit den drei Kindern und dem tragischen Tod von zwei Ehefrauen ist bereits zu einer festen Erzählung geronnen und in groben Zügen sogar niedergeschrieben. Mit dem irritierenden Satz "Weil wir den gleichen Vater haben" taucht jedoch plötzlich ein weiterer Sohn auf: Johann, nun bereits über 70 Jahre alt, ein allen Familienmitgliedern verheimlichtes "Kind der Liebe". Liefert seine Existenz den Schlüssel zum Verständnis für Vaters Schweigsamkeit, seine übergroße Strenge gegenüber der jüngeren Tochter und für Gregors fast schon pathologisches Zögern in praktischen Lebensfragen? Hinauf und hinunter Das Cover täuscht - hier führt nichts nach oben. Der Weg hinauf in die Praxis im vierten Stock, wo Gregor Leirichs Kurzzeitgeliebte als Zahnarzthelferin arbeitet, ist ebenso verwehrt wie die Aussicht auf einen beruflichen Aufstieg im Universitätsgetriebe, in dem Gregor im historischen Institut auf der Ebene des Lehrbeauftragen steckengeblieben ist. Seine Ehe wurde nach langen Auflösungserscheinungen geschieden, die auf dem Sprung ins Berufleben befindliche Tochter entgleitet ihm und in beruflichen Projekten wie privaten Beziehungen gerät er zunehmend in die Rolle des Lückenbüßers. Wäre da nicht die Musik Geredet wurde nicht viel in der Familie, aber da waren die Bücher und da war das Klavier, die beide die Enge der begrenzten Kleinhäuslerwelt zu sprengen vermochten. Hier war Hingabe möglich. Die Bücher ebneten den Weg an die Universität, der Jazz bot ein befreiendes Lebensgefühl und Auftritte als Gelegenheitsmusiker. Anstatt zu handeln, hat Gregor eine hohe Kunst des Analysierens und Deutens entwickelt, die er in einem originellen Selbstgespräch als Ich-Erzähler vor uns vollführt. Beständig webt er an seinem Mantel der Ironie, der ihn beschützt und isoliert. Zieht es Historiker schon berufsbedingt hinab in die Tiefen der Geschichte, so ist es in seinem Fall zusätzlich noch die persönliche Lebensgeschichte, die ihn hinabsteigen lässt in die Keller der Erinnerung, wo Nährendes und Beängstigendes gleichmaßen auf ihn warten. Ein Lesekeller bot ihm in der Kindheit Zuflucht, im Keller lagern aber auch irritierende Erinnerungsstücke und im Keller des Landesarchivs liegt die Geschichte des oberösterreichischen Sozialraums offen. "Weil wir den gleichen Vater haben" Ist der Satz, der bezeichnenderweise einem Kellergespräch entstammt, auch dazu angetan, die alten Familienerzählungen zum Einsturz zu bringen und das Leben des Vaters und der gesamten Familie in ein gänzlich neues Licht zu setzen, so liefert er zugleich auch Ansatzpunkte für ein neues Verstehen und mit dem Brechen drückender Tabus auch die Möglichkeit eines Neuanfangs. Es war eine verdeckte Wunde, die durch diesen Satz geöffnet wurde und nun verheilen kann. Kunstvoll gebaut und gewoben In der Zeitspanne weniger Wochen, die Habringer in seinem neuen Roman als Spielzeit ansetzt, aber es sind große Zeiträume der Erinnerung, die sich dahinter öffnen. Überzeugend und beeindruckend gelingt es dem Autor, das aktuelle Geschehen auf der Folie einer komplexen Famlien- und Sozialgeschichte sichtbar und vielschichtig deutbar zu machen. Auch in den individuellsten Typen spiegelt sich die Signatur ihrer Herkunft und ihrer Zeit. LeserInnen aus Österreich werden bei der Lektüre unweigerlich auf Vertraute und Bekannte stoßen und in ihren eigenen Sog an Erinnerungen hineingezogen werden. Ein beeindruckendes Buch, das mit seiner Präzision in der Gestaltung der Themen und Motive hinter der Oberflächenhandlung weite Räume mit verschiedenen Lesarten öffnet. Habringer-LeserInnen finden zudem die Herausforderung, einzelne Randfiguren, die durch das Geschehen schlüpfen, seinen früheren Büchern richtig zuzuornden. Ein nachdrücklich empfohlener Roman, der sich zudem ausgezeichnet für Literaturgesprächskreise eignet.


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Personen: Habringer, Rudolf

Habringer, Rudolf:
Leirichs Zögern : Roman / Rudolf Habringer. - Salzburg : Otto Müller Verlag, 2021. - 300 S.
ISBN 978-3-7013-1284-9 fest geb. : ca. EUR 25,00

Zugangsnummer: 0017159001
Romane, Erzählungen und Novellen - Signatur: DR HAB - Buch: Dichtung