Arzt, Thomas
Die Gegenstimme Roman
Buch: Dichtung

Der Bart macht dich systemkonform Thomas Arzts Debütroman »Die Gegenstimme« Heimat ist »ein Wort, das die Vorrangstellung liebt, sodass die meisten Komposita auch die Heimat an den Beginn stellen. So istÆs keine Gefühlsheimat, sondern ein Heimatgefühl. Keine Urlaubsheimat, sondern ein Heimaturlaub. Ich würd sie ja gern haben, echt, die Liebesheimat etwa, oder die Gedankenheimat, Sprachheimat, Schutzheimat, Beschmutzungsheimat (à) Schad, denk ich, dass sie sich der Liebenswürdigkeit entzieht, weil sie so herausgeputzt und vorgedrängt sich hat.« So schreibt Thomas Arzt in seinen Zehn Versuchen über Heimat zu sprechen, die er vor einigen Jahren für Die Furche formuliert hat. Als literarische Arbeit an diesem politisch immer wieder umkämpften Konzept können auch Arzts Dramen gelten, die Rollenbilder in ländlichen Gemeinschaften thematisieren, das Auseinanderdriften sozialer Gefüge infolge sich ändernder politischer Gemengelagen oder Klischeebilder von Heimatverbundenheit. Manch thematische Fortführung seiner Dramen lässt nun auch sein Debütroman Die Gegenstimme erkennen. Verschärft ist er um eine realhistorische Komponente: Er spielt am 10. April 1938, dem Tag der Abstimmung über den øAnschlussï Österreichs an das Deutsche Reich, in einem kleinen oberösterreichischen Ort. Bemerkenswert an just diesem Ort ist, dass hier eine Person, Karl Bleimfeldner, gegen den Anschluss gestimmt hat. Diesem Schustersohn und Studenten in Innsbruck gilt der Roman. In 29 Kapiteln, die abwechselnd verschiedene Figuren aus der kleinen Dorfgemeinschaft in den Blick nehmen, erzählt Die Gegenstimme den Tag der Wahl: von angedrohten Repressalien im Falle des Nichterscheinens im Wahllokal, von Karls Stimmab­gabe, von den abendlichen Feierlichkeiten, von Karls Flucht vor den Hitler-Anhängern, von Gewaltbereitschaft und einer brennenden Hütte. Zum Figurenensemble zählen prototypische Figuren wie der Dorfpolizist, der Pfarrer, die Tochter des Bürgermeisters oder der øDorftrottelï. Ihre politischen Ansichten, ihre Haltung gegenüber den Nationalsozialisten und gegenüber Karls Entscheidung sind Thema der einzelnen Kapitel, die vignettenartig die ideologische Landschaft des Dorfes zeichnen. Arzt vermittelt dergestalt sowohl einen Einblick in Karls Gefühlswelt als auch in jene der Dorfbewohner*innen und öffnet so außerdem den Blick der Leser*innen auf die Wirkungsweise von staatlicher und sozialer Macht. Diese zeigt der Roman in diversen Facetten - Machtgesten sind subtil oder offen drohend, Macht wirkt hinein bis in die Sprache und den inkorporierten Habitus der Figuren. Der »Gendarmerie-Revierinspektor« wird etwa als »pflichtbewusste liberal Gesinnter und doch faschistisch sich einzuordnen Wissender« gezeichnet. Im auf ihn fokussierten Kapitel heißt es: »De facto (à) liegt in diesem Landstrich keinerlei aktenkundiger Widerstand vor. Nicht mal ein Funke, sagt er sich nun doch etwas nervös in seinen Vollbart hinein (stutz ihn dir endlich, murrt seine Frau jeden Morgen, das macht dich systemkonform), und noch weitere Wörter plumpsen ihm ins altkaiserliche Krausehaar«. Seine politische Haltung hat der Inspektor inkorporiert, mit der neuen, von außen verordneten Gesinnung muss sich nun auch der Körper ändern. Der Kursivdruck, der die Leserin durch die gesamte Lektüre begleitet, verleiht dem Roman einen dialogischen Charakter. Er entsteht, indem Rede, Gedankenrede, stereotypisierte Formulierungen aus politischer Indoktrinierung oder der aktuelle Dorfklatsch miteinander verbunden werden. So stellt sich immer wieder der Eindruck ein, dass verschiedene Haltungen oder Sichtweisen in einen Dialog miteinander treten und man hört in solchen Passagen den Dramatiker im Romanautor besonders deutlich. Diese Passagen schaffen außerdem Abstand zu einzelnen Figuren und verhindern, dass man sich mit ihnen identifiziert - ähnlich, wie in Arzts Bühnenstücken gesungene Passagen oder chorische Elemente die Handlung unterbrechen und so analytische Distanz bewirken. Eine Art von Verfremdung stellt auch die bemerkenswerte Sprache des Romans her: eine Kunstsprache mit Elementen des Mündlichen, doch unverkennbar artifiziell, die wiederholt an österreichische Dramatiker wie etwa Werner Schwab erinnert. Über die Tochter des Bürgermeisters, »die Kern Cilli«, heißt es, die anderen Dorfbewohner »sollen alle sehen, wie sehr sie einen Stolz vor sich herträgt. Da hat sich schon das vierte Mannsbild heut nach ihr umgedreht (à) Die neue Politik gibt neuen Sinn. Und der Cilli ihrem Vater ein Amt und der Tochter ein Ansehen.« An dieser Kunstsprache sowie an den mehrstimmigen Passagen liegt es, dass die Erzählung vom Bleimfeldner Karl zu keiner pathetischen Geschichte über heroischen Widerstand wird. Denn differenziert zeichnet Arzt vor allem die Frauenfiguren und empathisch ist seine Auseinandersetzung mit der realhistorischen Situation. Bekanntermaßen war die Annexion zum Zeitpunkt der sogenannten Volksabstimmung de facto bereits vollzogen und diese Abstimmung nicht zu verwechseln mit einer freien, geheimen Wahl; Gegenstimmen wurden mit Anzeigen und Strafen geahndet. Karl kommt es bei seinem nonkonformistischen Verhalten zugute, dass er als Innsbrucker Student das Soziotop des Dorfes nach der Abstimmung wieder verlassen kann. Nichtsdestotrotz macht die Beschreibung der Abstimmungssituation sowie die Reaktion der Dorfgemeinschaft die Gefahr unmissverständlich, der Karl sich aussetzt: Stunden später ist er allein im Wald, auf der Flucht vor den nationalsozialistisch überzeugten Dorfbewohner*innen. »Eine Aufgebrachtheit in ihm, die Szenen vom Gemeindeamt hat er noch vor Augen. (à) Er spürt, wie alle Blicke auf ihn gerichtet sind, ihn durchleuchten, hier bleibt nichts geheim, und wer heute sich sonderbar benimmt, ist der Erste, der von der Liste der Wahlberechtigten auf die Liste der Verdächtigen wandert. (à) Und in der Wahlzelle hinter dem Vorhang, da hat er sich angemacht (à) er ist wie wild vorbei an allen, hat nur das Kuvert schnell geschlossen, die Urne, hinter ihm die Spur seiner Angst.« Modelliert ist Karl Bleimfeldner nach dem Großonkel des Autors, der 1938 tatsächlich mit Nein gestimmt hat (einer zweiten realhistorischen »Gegenstimme«, einer damals 21-jährigen Bäuerin aus Altaussee, hat Wolfgang Martin Roth mit Die Neinstimme von Altaussee übrigens 2017 ein schmales Buch gewidmet). Über die (politischen) Beweggründe des Großonkels ist, so Thomas Arzt in Interviews, wenig bekannt. So kann man den Roman vor allem auch als eine Art Spurensuche in der Familiengeschichte lesen, die weder verklärt noch heroisiert. Mit solch einer literarischen Bearbeitung reiht sich Arzt auch in eine literarische Tradition ein, die die österreichische NS-Vergangenheit erkundet und versucht, sich der historischen Ausnahmesituation zu nähern, indem sie diese um fiktionale Momente bereichert. In der Gegenstimme ist es die doppelte Bedrohung, der Arzts Interesse gilt: der Bedrohung durch die neuen politischen Machthaber sowie jener, die innerhalb der eigenen kleinen Gemeinschaft keimt und damit das scheinbar unmittelbar Vertraute erschüttert. Dieses Ineinander von außen und innen benennt Arzt auch in einem der Zehn Versuche über Heimat zu schreiben: »Keine Heimaterzählung kommt aus, ohne die Bedrohung der Heimat, die immer scheinbar von außen kommt, aber letztlich doch der Zerrspiegel des verborgenen Innen ist.«


Dieses Medium ist verfügbar. Es kann vorgemerkt oder direkt vor Ort ausgeliehen werden.

Personen: Arzt, Thomas

Schlagwörter: Anschluss Gesellschaft

Arzt, Thomas:
¬Die¬ Gegenstimme : Roman / Thomas Arzt. - Salzburg : Residenz Verlag, 2021. - 189 Seiten
ISBN 978-3-7017-1736-1 Festeinband: Eur 20,00

Zugangsnummer: 0028011001
Romane, Erzählungen und Novellen - Signatur: DR ARZ - Buch: Dichtung