Soder, Stefan
Simonhof Roman
Buch: Dichtung

Überall endet die Welt Einfache, intensivste Schilderungen einer Familiengeschichte Lebensgeschichten und Weltgeschichte, zwischen diesen beiden Aspekten gibt es in Zeiten des Internets, der großangelegten medialen Berichterstattung und der allgemeinen Globalisierung immer größere Kontaktflächen. Die Auswirkungen, die die globalen Prozesse auf das einzelne Leben haben, werden immer komplexer und stärker und die Möglichkeiten mit dem Rest der Welt in Kontakt zu treten und sogar spezifische Infos vom anderen Ende der Welt zu bekommen, wachsen. Diese vielfältigere Verknüpfung hat sich besonders im Verlauf des 20. Jahrhunderts extrem zugespitzt (Ich erinnere mich an eine Passage aus dem Roman »F« von Daniel Kehlmann, wo die Ahnenreihe eines Protagonisten dargestellt wird, immer weiter in der Zeit zurückgehend. Am Anfang sind die Existenzen und ihre Lebensläufe noch stark spezifiziert, je weiter die Darstellung zurückschreitet, zeichnet sich immer häufiger die gleiche Geschichte ab, die gleiche Lebenswirklichkeit, an der alle Kriege und fernen Entwicklungen vorüberziehen, außer wenn sie Auswirkungen auf das Leben Vorort haben, aber auch diese Auswirkungen werden als austauschbar und üblich wahrgenommen.) Der Einbruch der großen Welt in die kleine ist eine der Entwicklungen, die in Stefan Soders Roman Simonhof eine Rolle spielen. Das Buch erzählt die Geschichte eines Hofs in den österreichischen Alpen und der dort hausenden Familie (in welcher der älteste Sohn immer Simon heißt - eine einmal begonnene, nie wieder infrage gestellte Tradition) über vier, eigentlich sogar fünf Generationen hinweg. Die sehr neutrale, dokumentarische Sprache geht mit einer sehr unaufgeregten Erzählhaltung einher. Sie beginnt mit ihrer Schilderung bei dem ersten Simon, der von zu Hause fortgeht, weil er der zweitälteste Sohn ist, den die Familie nicht mehr miternähren kann und für den das nächste Tal schon eine ganz und gar fremde Welt darstellt. Genau dort aber findet er zunächst Arbeit und gelangt, mit etwas Geschick, kurz darauf sogar an einen eigenen Hof. Er wirbt erfolgreich um die Tochter des Krämers im Dorf und zieht mit in den neuen Hof, langsam reiht sich Entwicklung an Entwicklung, bald schon steht eine neue Geschichte, eine neue Generation ins Haus und betritt den Fokus der Erzählung. Hätte mir jemand den Inhalt dieses Buches beschrieben, ich hätte es für eine zähe Lektüre gehalten, zumindest für ein flache. Umso erstaunlicher, dass mir beim Lesen kein einziges Mal der Gedanke kam: wann endet diese oder jene Schilderung endlich. Stattdessen wurde ich auf eigenartige Weise gefesselt von all den Konflikten, dem Leben und Lieben und Sterben, und den Kollisionen mit der Zeitgeschichte, die sich auf dem schmalen Raum einer Familie und ihres Hofes ereignen können. Der dokumentarische Stil ist ein gut gewähltes Mittel, denn er lässt auch die kleinsten Ereignisse ein klein wenig bedeutsam erscheinen, zerrt sie aber wiederum nicht ins Außergewöhnliche. Was mit der Zeit der Erzählung einen zusätzlichen Sog verleiht, ist das oben bereits angesprochene Aneinanderreihen der Entwicklungen und der völlig unaufgeregte, aber ebenso kompromisslose Fortgang der Ereignisse. Diese Art, das Geschehen meist unmittelbar und als etwas Abgeschlossenes abzubilden, bringt einen ganz nah an die Figuren heran, weil sie immer als diejenigen, die von etwas betroffen sind, geschildert werden, lebendig in den Auswüchsen des Lebens, das sie gerade bewältigen. Das Hadern und die Widersprüche der Figuren werden nicht ausgewalzt, nur dargeboten und tief in ihnen angelegt, es wird davon erzählt; es werden keine Fragen bezüglich ihrer Persönlichkeit aufgeworfen, es wird nicht psychologisiert, die Figuren leben durch ihre Handlungen und Vorstellungen, ihre Ziele und Schwächen. Ich will das Buch nicht über die Maßen loben. Es gibt einige Momente, in denen man sich über die Leichtigkeit, mit der der Text offene Enden, neue Zusammenhänge oder zeitgeschichtliche Phänomene einführt und abhandelt, schon wundern kann. Manchmal wirken die Oberflächen der Hintergründe zu glatt. Worum es aber ja geht, ist die größere Stimmigkeit und die ist Soder gelungen, denn trotz dieser Momente verliert der Text nie seine Form, seine Art des nah am Leben gehaltenen Protokolls. Über die Kriegs- und Nachkriegszeit bis hin zu skitouristischen Zeiten fließt der narrative Fluss ohne Widerstand und schwemmt die Welt- und Zeitbilder an und reißt sie mit sich. »Simonhof« ist eine gelungene Erzählung von der Haltlosigkeit, die sich nicht aus dem Dasein verbannen lässt und der Entfernung, die sich zwischen allen Generationen, und oft schon zwischen zwei Menschen, die sich an einem Punkt nicht mehr verstehen, auftut. Es ist außerdem ein Buch, das eine Thematik streift und einbezieht, die ganz gern von Stadtmenschen unterschlagen wird: die harte Realität der Bauern und Bäuerinnen, die die Lebensmittel produzieren, von den sich die Leute in Dörfern und Städten meist ernähren. Eine nicht gerade lohnende Arbeit, selbst, wenn sie einem inmitten der Natur und der Tiere ein Zuhause bietet, das über Generationen ein solches bleiben kann. Soders Buch hinterlässt einen starken Eindruck. Man fühlt sich danach, als hätte man den Ort, den Simonhof und die Umgebung, das Dorf, besucht und sei mit einem Mal von dem Geist aller Geschichten angeweht worden, die sich je dort zugetragen haben. Schweigend verlässt man den Ort darauf, mit der Ahnung, dass es dort weitergeht, nachdem man gegangen ist, nachdem man diese Welt verlassen hat, dass es immer weiter geht, während sich alles ändert und nur wenig Beständiges der fortschreitenden Zeit erhalten bleibt. Und dieses wenige Beständige, das ist ein Muster, dem einzig die Erzählung auf die Spur kommen kann.


Dieses Medium ist verfügbar. Es kann vorgemerkt oder direkt vor Ort ausgeliehen werden.

Personen: Soder, Stefan

Soder, Stefan:
Simonhof : Roman / Stefan Soder. - Wien : Braumüller, 2017. - 259 Seiten
ISBN 978-3992001798 ca. Eur 20,00

Zugangsnummer: 0026254001
Romane, Erzählungen und Novellen - Signatur: DR SOD - Buch: Dichtung