Bois, Reinmar du
Jugendkrisen Erkennen, verstehen, helfen
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Jugend ; Psychische Krise "Heimat - mehr und anderes als die Eltern Manchen mag diese Aufzählung zynisch erscheinen und den Ausverkauf der Familie ankündigen. Wichtige Bedeutungen der Familie, die zehn- bis dreizehnjährige Kinder betreffen, scheinen zu fehlen. Wie können wir diese versteckten Bedeutungen erfassen? Verborgene Bedeutungen der Familie können wir erahnen, wenn die Kinder von ihrem Heimweh oder ihrer Sehnsucht nach Hause erzählen. Sie sehnen sich nach Hause, wenn sie lange in Ferien waren - nicht etwa, weil sie allein in diesen Ferien waren: Nein, die Eltern waren dabei. Hoppla! Die Eltern begleiten ihre Kinder und sorgen für sie, aber sie verkörpern nicht mehr alles, was den Kindern 'zu Hause' bedeutet. 'Zu Hause' ist mehr, als die Eltern im Gepäck mitführen können, mehr als die Lieblingspuppe, die Lieblingsdecke, mehr als ein Paar Gesellschaftsspiele und der vertraute Anblick von Mama und Papa. Die Kinder vermissen ihr Haus, ihr Zimmer, ihre Spielsachen, die Straße vor dem Haus, die Spie lkameraden, die geheime Ecke im Wald, die Treffpunkte, vertraute Gesichter, vertrautes Essen, vertraute Gerüche, Farben und Geräusche, die Muttersprache oder den Dialekt, die Silhouette der Stadt, deren Plätze, die Läden mit Süßigkeiten, die kleinen Rituale des Alltags, die täglichen Rhythmen des Aufstehens und Schlafengehens, den Schulweg und den Heimweg. Es wird offensichtlich, was den Wert des Zuhauses ausmacht: nicht mehr ausschließlich die Elternfiguren. Sie sind zwar die Garanten für das soziale Leben der Kinder, stehen den Kindern aber nicht mehr ständig vor Augen, sie treten ins zweite Glied zurück. Nach vorne treten zahlreiche Dinge und Personen, die sich schon längst um die Familie herumgruppiert hatten, ohne ihr direkt anzugehören und ohne in ihrer Bedeutung offenbar zu sein. Diese erfüllen nun den immer größer werdenden und immer bewußter in Anspruch genommenen Lebensraum der Kinder. Die Qualität der Familie bestimmt sich nicht mehr dadurch, wie perfekt sie in eigener Regi e - gleichsam unter Ausschluß der Öffentlichkeit - die Kinder zufriedenstellt, sondern wie gut sie die Öffentlichkeit einschließt, und wie anschlußfähig sie ist, bezogen auf die heimatliche Umwelt. Hier sprudelt eine neue Quelle der Befriedigung. Der Gedanke liegt nahe, daß ein Kind in diesem Alter eine Heimatbindung eingeht, weil es zuvor an die Eltern gebunden war und diese den Weg dorthin gewiesen haben. Tatsache ist aber, daß auch Kinder, die ohne eine enge Beziehung zu einem Vater oder einer Mutter aufwachsen, einen starken Heimatbegriff entwickeln, vielleicht sogar einen noch stärkeren. Heimat wird für sie zum Inbegriff des Gebundenseins, der Zugehörigkeit und Geborgenheit. Es scheint so, als ob diese Art der Verbundenheit weniger Krisen und Kränkungen heraufbeschwört als eine enge persönliche Beziehung zu den Eltern. Die Verbundenheit mit der Heimat ist ein sicherer Richtwert. Die Heimat darf unangetastet bleiben, wenn es später darum geht, Selbständigkeit zu erringen undsic h aus der Abhängigkeit von den Eltern zu lösen. Heimat ist die erste Wegzehrung für Kinder auf ihrem langen Weg zur Autonomie, auf dem sie noch viele Entbehrungen verkraften müssen. In dieser Zuverlässigkeit liegt möglicherweise ihre größte Anziehungskraft. Aber wie krisenfest ist die Heimat wirklich? Viele Eltern können oder wollen den Weg der Beheimatung ihrer Kinder nicht mitgehen. Dies hat innere und äußere Gründe. Es gibt Eltern, die nicht seßhaft werden wollen, weil sie nicht wissen, was aus ihnen an jenem Ort werden soll oder weil sie sich an ihrem Wohnort zu festgelegt fühlen. ('Hier, im Haus meiner Schwiegereltern, werde ich mich nie frei fühlen.') Viele Eltern sind aus beruflichen Gründen gezwungen, mobil zu bleiben. Gerade im Großkindalter machen Vater oder Mutter noch einmal einen Karriereschritt und müssen hierzu einen Ortswechsel vollziehen. Nicht wenige Eltern erziehen ihre Kinder in einer Umwelt, in der sie si


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Personen: Bois, Reinmar du

Bois, Reinmar du:
Jugendkrisen : Erkennen, verstehen, helfen / Reinmar du Bois. - München : Verlag C. H. Beck, 2000. - (Beck'sche Reihe; 1311)
ISBN 978-3-406-42111-2

Zugangsnummer: 0003390001
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