Scheffel, Tobias
Das ganz und gar unbedeutende Leben der Charity Tiddler
Buch

Quelle: 1000 und 1 Buch (http://www.1001buch.at/); Autor: Franz Lettner; Am Anfang ist da niemand, der die kleine Charity dabei stört, ein eigenartiges Kind zu werden: Die Mutter, heißt es, "gehörte zu jenen damals zahlreichen Personen, für die ein Kind schlimmstenfalls zwar gesehen, aber niemals gehört werden sollte". Der Vater ist, wenn nicht im Club, in seinem Arbeitszimmer. Betreut wird Charity weit weg im dritten Stock des Hauses von den Dienstboten, wobei das Kindermädchen Tabitha, eine Schottin mit großem Vorrat an Liebesgeschichten, die in der Regel ziemlich schlecht ausgehen, schon früh eine Tendenz zum Wahnsinn zeigt. Für zusätzliche Gesellschaft muss das kleine Mädchen selbst sorgen: Es beginnt mit Mäusen, Miss Kleinschritt und Miss Tutu, der erste Vogel wird noch mit Porridge erstickt, der Rabe Petrucchio bleibt lange und wird später zum Gaudium der Kinder und zum Schrecken der Erwachsenen unter anderem "Rule, Brittania!" krächzen. Da ist Charity allerdings schon älter und wird nicht mehr für ein "geistig etwas beschränktes junges Mädchen" gehalten, was ihr "alle Chancen auf einen Ehemann wahrte", sondern für "originell". "Originelle junge Mädchen reihten sich jedoch eines Tages in die Bataillone der exzentrischen alten Jungfern ein." Davor kommt allerdings noch jede Menge Kleingetier, Shakespeare - knapp zehnjährig lernt Charity den ganzen "Hamlet" auswendig - und das Aquarellieren, das sie von ihrer Gouvernante Madmoiselle Blanche, die Vertraute und Freundin werden wird, lernt, allerdings anfangs für wissenschaftliche Zwecke einsetzt und erst sehr viel später für Bilderbücher. Was ist das für eine eigenartige Figur, die lange sperrig bleibt und einem dann so sehr ans Herz wächst, die eine Haltung brutaler Zärtlichkeit ihren Tieren wie den Dramentexten Shakespeare gegenüber einnimmt und doch ihrem Namen Ehre macht, die anfangs und lange ungeduldig und später dann bisweilen fast resigniert darauf wartet, dass etwas passiert, um in entscheidenden Momenten immer das Heft in die Hand zu nehmen. Dass sie Kenneth, den anderen Außenseiter, am Ende bekommen wird, das ahnt man früh und daran verliert man bisweilen den Glauben. Den an die Menschen der mehr oder weniger reichen oberen englischen Mittelschicht im ausgehenden viktorianischen Zeitalter hat man jedenfalls bald verloren. Marie-Aude Murail erweist sich in ihrem jüngsten Buch als großartige Erzählerin: Sie inszeniert diese fiktive Biografie Beatrix Potters aus der Perspektive der Heldin, allerdings retrospektiv. Sie lässt sie nie aus der Rolle fallen, passt ihren Widerstand der Zeit an, entwickelt dabei eine höchst komplexe und eigenwillige Figur, die doch glaubwürdig ist. Auch als die moderne Frau, die sie am Ende ist, die sich nicht nur von ihrer Familie emanzipiert und ein Leben in Unabhängigkeit erreicht hat, sondern zudem glücklich geworden ist. Durchgehend werden in den Prosatext kleine Minidramen eingestreut, in denen die Charity Shakespeare deklamiert, Gespräche mit ihrer Mutter oder den Cousinen führt und später dann zunehmend solche mit Kenneth, in denen sich die beiden als ebenbürtig belesen, geistreich und witzig erweisen. Je länger die Lektüre andauert, desto unterhaltsamer wird sie - und wenn am Ende alles gut ausgeht, stellt sich die Frage, ob das diesen Roman zu Kinder- bzw. Jugendliteratur macht? Diese fiktive Autobiographie der Beatric Potter ist die Geschichte einer zur Künstlerin sich emanzipierenden Frau der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, ein Bildungs- und Entwicklungsroman, der natürlich geeignet ist als Lektüre belesener Mädchen ab 12 oder 13 Jahren, aber zweifellos ein Gewinn auch für alle übrigen älteren Leserinnen und Leser. Dass der Franzose Philippe Dumas zahlreiche kleine feine Aquarelle beigesteuert hat, soll nicht unerwähnt bleiben, sie waren aber - in der Lektüre des Rezensenten - chancenlos gegen den von Tobias Scheffel hervorragend übersetzten Text und blieben daher farblos. Vielleicht kommen sie im nächsten Lesedurchgang zur Geltung. ---- Quelle: Alliteratus (http://www.alliteratus.com/); Autor: Bernhard Hubner; "Ganz und gar unbedeutend"? So sieht es gar nicht aus, dieses dicke und schwere Buch, und natürlich ist das auch nicht ganz ernst gemeint als Einschätzung der Autorin, eher als Selbstgefühl der Hauptperson, doch dazu später mehr. Jedenfalls kostet es für junge Leser schon etwas Mut, sich einem solchen "Wälzer" zu öffnen. Wer es aber tut, wird reich belohnt, denn dieses Buch ist es wert. Das Leben, um das es hier geht (oder besser "zu gehen scheint"), ist das einer jungen Lady namens Charity Tiddler, geboren um 1870 als einzige Tochter eines wohlhabenden, aber nicht wirklich reichen Engländers, der sich durch möglichst geringe Anteilnahme an irgendeiner Art von produktiver Tätigkeit sowie am Leben seiner Familienangehörigen auszeichnet. Ein Kommentar wie "In der Tat!" ist schon als wortreiche Äußerung und abschließendes Urteil zu jedweder familiären Angelegenheit zu werten. Charity wächst auf in einer Welt, wo man Kinder am besten niemals hören und möglichst wenig sehen sollte, bis sie ins Erwachsenenalter eintraten, was einen fast 24 Stunden des Tages umfassenden Aufenthalt im Kinderzimmer unter Aufsicht von Köchin, Dienstmädchen und später Gouvernante bedeutet. Doch statt in einer solchen Umgebung alle Initiative, alle aktiven Fähigkeiten und alle Nicht-Mädchen-Aktivitäten zu verlernen, entwickelt die kleine Charity ein lebhaftes Interesse an der Natur, besonders der kleiner, gar verletzter oder alleingelassener Tiere. Ob Kröten, Vögel, Igel oder Hasen, jedes Lebewesen wird aufgenommen, nach Kräften versorgt und beobachtet. Die ersten Kandidaten dieser Liste werden leider zu Opfern dieser Fürsorge, doch die Fähigkeiten wachsen und mit ihnen der hauseigene Zoo im Kinderzimmer. Als eine Gouvernante zur Bildung und Erziehung des Mädchens engagiert wird, findet Charity nicht nur eine Freundin fürs Leben, sondern auch Freude an der Malerei und wissenschaftlichen Studien ihrer Tiere. Bei Besuchen und Sommerfrischen knüpft sie distanziert-freundschaftliche Beziehungen zu Cousins und Cousinen, aber auch zu einem Jungen namens Kenneth, der großen Einfluss auf ihr weiteres Leben haben wird. Doch sie wird zwar älter, bleibt aber eher schüchtern, zurückhaltend, verschlossen und misstrauisch ihren eigenen Empfindungen gegenüber. So wird um sie herum geflirtet, geheiratet und sich wieder getrennt, Miss Tiddler wirkt aber von solchen Eskapaden unberührt und unbeeindruckt. Als die Eltern sie schon als alte Jungfer sehen und ihr, dem Frauenbild der Epoche entsprechend, keine Entwicklungschancen im Leben mehr geben, kommt sie fast aus Versehen zum Schreiben und Illustrieren von Kinderbüchern, in denen sie Tiere aus ihrem Privatzoo vermenschlicht und sie Schlüsselszenen aus ihren Erlebnissen nachvollziehen lässt. Und so unbedeutend sie eben selbst ihr Leben und Tun einschätzt, es wird noch recht turbulent und ereignisreich. Selber lesen! Der Bucheinband verrät bereits vorab, dass es sich bei dieser in Ich-Form gestalteten "Autobiografie" um eine annähernde Lebensgeschichte der berühmten Kinderbuchautorin Beatrix Potter handelt, die zur gleichen Zeit mit ihren "Peter Hase"-Büchern die Welt der lesenden Kinder um ein völlig neuartiges und ungewohntes Genre bereicherte und damit große Erfolge hatte. Dabei ist es recht unwichtig, wo die exakten Übereinstimmungen und eventuellen Unterschiede der Biografien stecken. Vor den Lesern entfaltet sich schon ab den allerersten Seiten ein mehr als lebendiges und anschauliches Panorama englischen Oberschichtlebens gegen Ende des 19. Jahrhunderts. Dabei wird weder verketzert noch beschönigt, über die Qualitäten und Schwächen dieser Gesellschaft darf der Leser gerne selber urteilen, doch fällt das angesichts der eindrucksvollen Szenen aus Kinderstube, Alltag und Umgang mit angestelltem Personal recht leicht. Auch die Hauptfigur, Charity, kommt dabei nicht als strahlende Heldin und Unschuldslamm heraus, sie bietet den Lesern mal offener, mal verdeckter, ehrlichen Zugang zu ihren innersten Regungen, auch wenn sich diese im Nachhinein als Dummheiten oder Hemmnisse erweisen. Damit liefert sie den Lesern weniger Tipps zur Lebenshilfe, dafür unterscheiden sich die Lebenswelten dann doch zu stark, aber als Einblick in das Leben Gleichaltriger in früheren Zeiten kann man sich keine besseren Beispiele vorstellen. Und eines macht dieses Buch - neben vielen anderen Anregungen - auf jeden Fall auch: Lust, einmal wieder die "echten" Beatrix-Potter-Bücher zu lesen und in ihnen auf Spurensuche nach dem neugewonnenen Hintergrundwissen zu gehen. Es ist klar, dass dieses Buch mit einem auf den ersten Blick unzeitgemäßen und beinahe sperrigen Thema und Subjekt nur deshalb eine so große, sympathische und überzeugende Wirkung entfalten kann, weil sich mit Marie-Aude Murail eine der ganz großen Schriftstellerinnen seiner angenommen hat. Nur wenigen anderen wäre es gelungen, so viel Charme, Detailverliebtheit und ziemlich schrägen Humor einzuarbeiten, ohne das Gefühl der historischen Zeit zu sprengen. Und gerade dieser Humor lässt einen an jedem Satz und jeder Seite genussvoll "kleben", hin und her gerissen zwischen Vergnügen und leisem Schrecken vor der gezeigten Respektlosigkeit. Musterbeispiel hierfür ist der erste Kontakt mit einem vor dem Schlachten geretteten Hasen, für den die Köchin als Kosenamen "Pastete" vorschlägt, "dann kann er sich schon mal dran gewöhnen". Dieser Hase endet im Kochtopf, ein Nachfolger kommt und wieder gibt es eine Idee für einen passenden Namen: "Frikassee". Solche kleinen, aber feinen Momente ziehen sich durch die ganze Geschichte, lockern auf und amüsieren, wenn der Hauptverlauf der Handlung gerade etwas schwieriger wird. Denn auch schwierige Momente bietet das Buch zuhauf: Schließlich liest Charity leidenschaftlich gerne Shakespeare und zitiert daraus bei jeder Gelegenheit, kreuzen sich ihre Wege mit anderen berühmten Autoren wie Oscar Wilde und George Bernard Shaw, die eigene "krumme" Lebenswege vorzuweisen haben. All das müsste sich ein junger Leser erst erarbeiten, dieser Hintergrund wird vor der Lektüre eher nicht vorhanden sein. Aber ist es nicht wundervoll, wenn eine unterhaltsame Geschichte auch solche "Anreißer" und Informationen bietet? Noch einmal: Es gäbe eine Menge Fallstricke und Möglichkeiten des Scheiterns, wenn ein Verlag ein ähnliches Werk bei einem weniger fähigen Autor in Auftrag gäbe, zu vieles neigt zur Unübersichtlichkeit, manches streift den Bereich der Peinlichkeit oder der Unverständlichkeit in der Sache, aber Murail kennt solche Probleme nicht oder hat sie zumindest mehr als überzeugend gelöst. Es war für mich keine Überraschung, aber auch hier liegt ein Buch vor, das Kurzweiligkeit mit Sachkenntnis, berührende Gefühlstiefe mit ironischer Schlitzohrigkeit und faszinierendes Zeitkolorit mit "echten" Menschen verbinden kann. Traumhaft! Nicht vergessen werden sollen die Bilder von Philippe Dumas, dem es gelungen ist, seinen aquarellierten Tuschezeichnungen gleichzeitig eine durchaus Pottersche Anmutung zu geben und dennoch dabei eigene Aspekte in Sichtweise und Darstellung zu behalten. Das Buch hätte auch ohne Illustrationen funktioniert, das darf man sagen, aber ihre sanfte und dabei treffende Akzentuierung bereichert das Gesamtwerk zusätzlich. Was ich mir zum Schluss wünschte? Dass es zum Ende hin nicht ganz so flott "ausliefe" - und eine Antwort auf die Frage, wann das Buch denn verfilmt wird. Denn eignen würde es sich perfekt für die Visualisierung. Aber lest doch erst mal das Buch! ---- Quelle: bn.bibliotheksnachrichten (http://www.biblio.at/literatur/bn/index.html); Autor: Rebecca Englert; Erfundene Autobiografie, frei nach dem Leben der Beatrix Potter. (ab 14) (JB) Charity ist acht Jahre alt, als sie mit der Schilderung ihres Lebens beginnt. Sie ist kein gewöhnliches Mädchen - recht früh interessiert sie sich anstatt für Fertigkeiten, die sich für kleine Damen ihrer Zeit geziemen, für wissenschaftliche Studien: Tiere und Natur allgemein sind ihre Leidenschaft und ihr kleiner Zoo wird von den Erwachsenen zum Glück geduldet. So wie die kleine (und später junge Erwachsene) Charity erzählt, ist ihr Leben offenbar tatsächlich "ganz und gar unbedeutend", und doch hat der scheinbar unspektakuläre Erzählstil etwas an sich, was Lesende fesselt. Mit sehr feinem Humor beschreibt Charity etwa Versuche des Flirtens und der Kommunikation, wenn der eine oder andere junge Herr sich in der Kunst der Konversation übt - und sie den Ärmsten in ihrer Art unbeabsichtigt auflaufen lässt. Mit fortschreitender Handlung erschließt sich Beatrix-Potter-Fans auch die Entwicklung ihrer Tierfiguren, die später zahlreiche kleine oder große LeserInnen erfreuen. Absolut charmant und gleichzeitig mit Scharfsinn geschrieben, haben LeserInnen ihre Freude an Charitys Intelligenz und Souveränität, mit der sie ihr Leben entgegen aller Konventionen ihrer Zeit führt und gestaltet. Der Autorin ist ein großartiger Roman gelungen, der in keinem Bestand fehlen sollte. Für Jugendliche ab 14 als auch für Erwachsene sehr empfehlenswert.


Rezension


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Serie / Reihe: ¬Die¬ Bücher mit dem blauen Band

Personen: Scheffel, Tobias Dumas, Philippe Murail, Marie-Aude

Schlagwörter: Mädchen Frauen Jugendroman Schriftstellerin Rollenbilder

Scheffel, Tobias:
¬Das¬ ganz und gar unbedeutende Leben der Charity Tiddler / Marie-Aude Murail. Aus dem Franz. von Tobias Scheffel. Mit farb. Bildern von Philippe Dumas. - Frankfurt a. M. : S. Fischer, 2011. - 570 S. : Ill. (farb.). - (¬Die¬ Bücher mit dem blauen Band)
ISBN 978-3-596-85443-1

Zugangsnummer: 38
Erzählungen und Romane - Signatur: JE Mur - Buch