Scheer, Hermann
Der energethische Imperativ 100% jetzt: Wie der vollständige Wechsel zu erneuerbaren Energien zu realisieren ist
Sachbücher

Die jüngste Weltklimakonferenz im mexikanischen Cancún ist mit einem bescheidenen, von Mitwirkenden und Kommentatoren aber überwiegend akklamierten Ergebnis zu Ende gegangen. Wer wollte ernsthaft mehr und anderes erwarten? Derartige Rituale, so analysierte bereits im Vorfeld Hermann Scheer in seinem letzten Buch, würden als "Ansammlung von Megaworten und Minitaten" vor allem belegen, "wie Regierungen in die Machtstrukturen re-tardierender Interessen eingebettet sind" (S. 226) und darüber hinaus von "zwei höchst fragwürdigen Prämissen" ausgehen: zum ei-nen, dass es einer globalen Vertragslösung bedürfe, um den erneuerbaren Energien zum Durchbruch zu verhelfen; zum anderen, dass der Einstieg in die Energierevolution vor allem eine wirtschaftliche Belastung darstelle (S. 70). Die Fakten, daran lässt Scheer in diesem Buch, das wider Erwarten zu seinem politischen und wissenschaftlichen Vermächtnis werden sollte, keinen Zweifel, weisen freilich in eine andere Richtung: Von 2006 - 2008 haben sich Investi-tionen in erneuerbare Energien weltweit von 63 Mrd. auf 120 Mrd. so gut wie verdoppelt, und nach Beschluss des Erneuerbaren-Energie-Gesetzes in Deutschland (EEG) im Jahr 2000 ist deren Anteil an der Stromversorgung bis 2009 von 4,5 auf 17 Prozent gestiegen. Auch wenn 2009 noch vier Mal so viel für konventionelle Energieträger ausgegeben wurde, hält Scheer den vollständigen Umstieg auf "die Erneuerbaren" in nur 25 Jahren für machbar, "wenn wir alle dafür notwendigen Kräfte mobilisieren" (S. 11). Es bedürfe, einer "bei-spiellosen politisch-kulturellen Kraftanstren-gung", die in Anbetracht der Herausforderungen nicht weniger als die "ultima ratio" sei und den umfassendsten wirtschaftlichen Strukturwandel seit Beginn des Industriezeitalters bedeutet. Umso mehr gelte es zu erkennen, welche Initiativen und Kon-zepte den Umstieg uneingeschränkt befördern, ihn behindern oder letztlich verhindern würden, argumentiert der Autor, der sein Buch als "Navigationshilfe für Durchbruchsstrategien" verstranden wissen wollte. In Form einer "Bestandsaufnahme" werden zunächst grundlegende Unterschiede zwischen konventionellen und erneuerbaren Energieträgern herausgearbeitet. Diese betreffen 1.) begrenzte/unbegrenzte Verfügbarkeit, 2.) Emission/Nullemission sowie 3.) die "grundlegende Systemdifferenz" von zentraler bzw. dezentraler Versorgung, womit die wesentliche politische Herausforderung benannt ist. Folgerichtig werden daran anschließend "Methoden und Psychologie der Verlangsamung" beschrieben - etwa die Forderung nach "internationalem Gleichklang", die Notwendigkeit kon-ventioneller (vorwiegend atomarer) "Energiebrücken" oder auch der Vorwurf der Marktverzerrung durch einseitige Förderung. Aber auch die Praxis der Klimakonferenzen und den dort verhandelten Emissionshandel bezeichnet der Autor als "Konzeptfallen", die zu einer "hoffnungslosen Lähmung der Weltklimapolitik führen" (S. 75). Wie sehr hingegen produktive Alleingänge dem Klima zugute kämen, zeige das EEG, "das in Deutschland zu deutlich mehr CO2-Reduktionen geführt habe, als das Kyoto-Protokoll offiziell auferlegt" hat (S. 81). Wenig überraschend, aber umso mehr überzeugender demaskiert der Autor sowohl die Option Atomenergie als auch die CO2-Speicherung als "Brückensperren" für die Erneuerbaren, kritisiert den "Markt-Autismus" der marktbeherrschenden Energieversorger und verweist darauf, dass Wirt-schaftswissenschaftler in Frankreich als Ausdruck einer "überfälligen intellektuellen Gegenwehr" eine "Gesellschaft für postautistische Ökonomie" gegründet haben (S. 116). Deutlich wendet er sich auch gegen das "Ausspielen der Zukunft durch die Gegenwart" als gängige Praxis mangelnder poli-tischer Zivilcourage. Im Klartext: "Besonders perfide sind die notorischen Warnungen vor höheren Energiepreisen für erneuerbare Energien und vor der durch diese gefährdeten éVersorgungssicherheit'. (à) Diese Versuche, Egoismus zu Lasten anderer Menschen und künftiger Generationen zu schüren, beleidigen die Gesellschaft, der man unterstellt, dass sie aus Angst vor Veränderungen mehrheitlich bereit sei Katastrophen zu riskieren." (S. 127) Als "pseudoprogressive Bremse" des unab-dingbaren Energie- und Systemwechsels charakterisiert Scheer Projekte wie "Desertec" und "Seatec", die unter dem Deckmantel erneuerbarer Technologie zentralistische Strukturen fortschreiben und die sozialen Folgen technologischer Großprojekte nicht hinreichend be-rücksichtigen würden. Gestaltungsräume und Potenziale für erneu-erbare Energien werden im zweiten Teil ausgelotet. Die kostenlose Energiequelle sowie die unmittelbare Verfügbarkeit ließen - so der ethische Ansatzpunkt - die Erneuerbaren "vom bloßen Wirtschafts- und Konsumgut zum Kulturgut", Produzenten und Konsumenten zu Partnern in einer "aktiven Energiegesellschaft" (S. 169) werden, ist Scheer überzeugt. Dabei würden Kommunen, Unternehmen und einzelne Akteure die Potenziale des "energethi-schen Imperativs" zunehmend erkennen und nutzen. Gesetzliche Änderungen in den Bereichen der Bauplanung und Landschaftsnutzung oder auch die Einführung von Schadstoffsteuern anstelle von Energiesteuern wür-den den Paradigmenwechsel beschleunigen und der produktiven Fantasie zum Durchbruch verhelfen: Auto-, Chemie- und Agro-Industrie würden zu den Gewinnern zählen, und auch für die "Entwicklungsländer" ergäben sich durch die "Desert-Economy" neue Perspektiven. Gesellschaftspolitisch setzt Scheer insbeson-dere auf die Wiederbelebung des "Agenda-21-Ansatzes im Sinne von unilateralen "bottom-up"-Prozessen. Auch sollte die Struktur de Weltklimakonferenz in Richtung einer Weltkonferenz für nachhaltige Energieversorgung und Klimaschutz unter Leitung der UN weiterentwickelt werden. Der Rückbau der CO2-Konzentration auf 335 ppm durch weltweite Wiederaufforstung, die Förderung von Nullemissionsprojekten durch Nullzinsdarlehen, der massive Ausbau einschlägiger Fachkompetenz und die "Abwicklung des Atomzeitalters" sind weitere Eckpunkte dieses Konzepts Richtung einer emissionsfreien Weltgesellschaft. Das Vermächtnis von Hermann Scheer ist es, uns sowohl die Machbarkeit als letztlich auch die Alternativlosigkeit des Wegs in eine emissionsfreie Energiezukunft vor Augen geführt zu haben. Worauf also warten wir noch? Walter Spielmann Aus: PRO ZUKUNFT 2010/


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Personen: Scheer, Hermann

Schlagwörter: Deutschland Energie Erneuerbare Energien

Interessenkreis: Naturwissenschaft

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Scheer, Hermann:
¬Der¬ energethische Imperativ : 100% jetzt: Wie der vollständige Wechsel zu erneuerbaren Energien zu realisieren ist / Hermann Scheer. - München : Kunstmann, 2010. - 270 S.
ISBN 978-3-88897-683-4 Eur 20,50

Zugangsnummer: 0019505001 - Barcode: 01020091
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