Helbich, Ilse
Schwalbenschrift ein Leben von Wien aus
Dichtung/Belletristi

Im Alter wird das Leben gegenwärtig Die Schriftstellerin Ilse Helbich "Es ist jetzt", sagt Ilse Helbich, "der Höhepunkt meines Lebens." Ein Zielpunkt. 85 wird Ilse Helbich heuer. Sie lacht wie ein junges Mädchen. Im Alter, sagt sie, bekomme jeder Moment seinen Wert: "Das Leben wird so gegenwärtig. Ich bin wirklich altersversessen." Schneeregen, feuchte Kälte. Mitte November. Ilse Helbich öffnet das Tor zu dem alten Haus im Kamptal, das sie in langer Arbeit behutsam und stilvoll renovieren ließ. Es ist ein U-förmig angelegtes, dreiteiliges Haus, hinter dem gepflasterten Innenhof der sorgsam eingewinterte Garten. An den klaren Strukturen erkennbar die Handschrift der Gärtnerin. Ein edles Ambiente. Als Ilse Helbich die ehemalige Thurn und Taxis'sche Poststation kaufte, war sie 66 Jahre alt. Ein Abenteuer, aber: "Dieses Haus ist mein erstes Zuhause!" Lange habe sie überlegt, ob sie das Wagnis eingehen solle. Den Ausschlag gab schließlich die Schwedenkugel, die sie auch im Roman "Schwalbenschrift" verewigt hat. Eine schwedische Kanonenkugel aus dem Dreißigjährigen Krieg, die - feinsäuberlich freigelegt - in der Hausmauer steckt. SPUREN DER MATERIE. Ilse Helbich trägt eines ihrer wallenden, bodenlangen Gewänder - "Ich leide an Neurodermitis und vertrage nichts anderes auf der Haut", kommt sie Fragen zuvor. Das Haus. Der Garten. Es ist, als hätten Haus und Besitzerin nur darauf gewartet, einander zu finden, so harmonisch passen sie zueinander. Ein uraltes Gemäuer, das voller Überraschungen steckt. Eine meterhohe Scheune, ein uralter Weinkeller à Der ehemalige Pferdestall im Gästetrakt wurde zu einem eleganten und originellen Badezimmer. Die Eingangstüren sind so niedrig, dass sich, wer eintritt, tief bücken muss. Weiß getünchte dicke Mauern, roter Cottoboden, Holz. Ein Zimmer in Ilse Helbichs Wohnbereich, das repräsentative, in dem nur Nachmittagskaffee eingenommen wird, wenn Gäste kommen, mit dem grünen Kachelofen aus Familienbesitz und den Biedermeierstilmöbeln der Mutter. Eine Sammlung japanischer Netsuke aus Elfenbein im Glasschrank. Über ihrem Bett ein Schwalbenmobile einer Leserin. Bücher, Bilder, Kunstwerke, Erinnerungsstücke. Nichts ist zu viel. Alles hat seinen Platz, seine Funktion, seinen Sinn. So, wie in den Texten der Ilse Helbich. SCHREIBEN VON INNEN. Als der Roman "Schwalbenschrift" erscheint, ist sie 80 Jahre alt. Das Schreiben, sagt sie, sei immer schon in ihr gewesen. Richtig bewusst wurde ihr diese besondere Fähigkeit in der Schule: Wenn die anderen bei der Deutschschularbeit stockend Satz für Satz hinschrieben, saß sie lange ganz still da und wartete. Musste es zulassen, dass fremde Energien in ihrem Inneren zu arbeiten begannen. Wie auf einen Befehl nahm sie dann die Feder und schrieb und schrieb, hastig, in einem Zug, ohne abzusetzen. Und nachher habe sie nicht gewusst, was auf dem weißen Blatt steht à "Diese Art zu schreiben, wo man von unten etwas rauskommen lässt, habe ich mir verboten", sagt Ilse Helbich heute. Es sei zu nahe für sie gewesen: "Ich hatte das Gefühl, es kommt einer Lüge gleich, weil ich mit meinem anderen Leben nicht dahintergestanden bin." Sie ist eine, die gerne die Kontrolle behält und immer die Contenance. Der Roman "Schwalbenschrift" oder die Erzählungen im Band "Iststand" sind aus der Distanz der dritten Person geschrieben, von einer, die "nicht dazugehört" und "die sich unverbrüchlich von keinem ins Herz schauen lassen darf". REIFUNG EINER FRAU. Mit dem Wort "Splitterbilder" beginnt der Roman. Splitter der Erinnerung an ein Leben, zusammengefügt wie in einem therapeutischen Prozess, an dessen Ende ein einsames Mädchen zu einer Frau gereift ist, die im Alter einen emanzipatorischen Akt setzt: Nach über 30-jährigem Familienleben löst sich die Protagonistin aus einer entfremdeten Ehe und beginnt ein eigenständiges Leben. Dazwischen liegen Kindheit und Jugend im gefühlskalten Elternhaus einer wohlhabenden Industriellenfamilie in Wien-Döbling. Eine Umgebung, in der die Männer das Sagen haben, in der sich die Mutter zu Tode langweilt und bald alle Heiterkeit und Wärme verliert, in der Dienstboten zur Selbstverständlichkeit gehören, der Chauffeur einer der Menschen ist, die dem Mädchen am nächsten stehen, doch auch diese Herzensverbindung vermag die soziale Distanz zwischen der Tochter des Chefs und denen, die für ihn arbeiten, nicht zu überwinden. Dazwischen liegen die Kriegsjahre, die kurze, vorübergehende Faszination des Nationalsozialismus auf das BDM-Mädchen, das den Irrsinn jedoch bald erkennt; die russische Besatzung Wiens, mit all ihren Schrecken und dem traumatischen Erlebnis einer Vergewaltigung. LITERARISCH PROTOKOLLIEREN. Danach der Versuch zu leben. Promotion, Arbeit in einem Verlag, unglückliche Liebe, unglückliche Ehe, fünf Kinder. Letztendlich - der Bruch. Es war keine Befreiung, es war eine Notmaßnahme, reflektiert Ilse Helbich. Aus der Distanz vieler Jahre. Eine Frau, die endlich zu sich selbst gefunden hat: "Es war höchst an der Zeit, ein nicht selbstbestimmtes Leben, das von seinen Wurzeln abgeschnitten war, zu beenden." Unmittelbar danach seien da nur Angst und Schuldgefühle gewesen. Es war die jüngste Tochter, die erkannt hatte, wie es der Mutter ging, und den wichtigen Impuls setzte. Schreiben, sagt Ilse Helbich, schreiben hätte sie damals nicht können. Da ging es erst einmal nur darum zu leben. Freunde stellten ihr eine leere Garçonnière zur Verfügung. "Schwalbenschrift" ist das literarische Protokoll dieser Entwicklung. SPÄTES LEBEN. Splitterbilder, das sind auch die Texte der 2004 in der Edition Thurnhof erschienenen Sammlung "Die alten Tage" - eine wunderschöne, limitierte Edition mit Offset-Farblithografien von Rainer Wölzl. "Iststand" - Sieben Erzählungen aus dem späten Leben, das ist zunächst das Dasein einer Frau, die den Tod erwartet, "mit jener Mischung aus Furcht und Zittern und jener wortlosen, bilderlosen Hoffnung, mit der sie einmal auf die Geburt ihrer Kinder gewartet hat". Doch die Stimmung changiert - zwischen Melancholie, der Sehnsucht nach Jugend, Liebe und der Zufriedenheit mit dem Dasein an sich. Nein, Ilse Helbich ist keine einsame, alte Frau, die den Tod herbeisehnt, wie es manche ihrer Erzählungen vermuten lassen könnten. Sie hat ihre Kinder, Enkelkinder, ihre Freunde, Gleichgesinnte. Sie ist eine, die - endlich - mitten im Leben steht und sich an den kleinen Dingen des Alltags erfreut, realistisch genug zu wissen, dass das Leben endlich ist. Und strahlt dabei Ruhe und Gelassenheit, eine innere Gelöstheit aus. Auch in ihrer Gottes- und Sinnsuche ist sie eine Freie geworden: "Im Grunde sind alle Formen zu eng." Sie, die einst sehr schwer zum Christentum fand, dann katholisch war und langsam wieder hinausgeschwommen sei. Seit einiger Zeit befasst sie sich mit Zen-Buddhismus. Meditiert zweimal täglich, um ihren Kern zu finden, wie sie sagt. Sie ist eine, die bei sich ist. DAS NÄCHSTE TUN. "Wenn ich mir etwas wünsche vom Leben", sagt Ilse Helbich, "dann wünsche ich mir, dass ich meine nächste Geschichte noch abschließen kann." Das Haus wird darin eine Rolle spielen und Überlegungen zur These des deutschen Psychoanalytikers und Philosophen Erich Fromm über "Haben oder Sein": "Es gibt ein Haben, das auch ein Sein ist. Damit beschäftige ich mich." Am Ende eines langen Gesprächs ist Ilse Helbich kaum Müdigkeit anzumerken. Sie macht einen rundum zufriedenen Eindruck. "Bin ich auch!", sagt sie. Und lacht wieder ihr Jungmädchenlachen: "Ich bin weder melancholisch noch depressiv. Ich finde das Leben einfach schön!" Werke von Ilse Helbich: "Schwalbenschrift", Ein Leben von Wien aus, Libelle Verlag, 240 Seiten, Eur 19,50 "Die alten Tage", Edition Thurnhof "Iststand", Sieben Erzählungen aus dem späten Leben, Löcker Verlag, 160 Seiten, Eur 16,80 Splitterbilder. Dazwischen nichts. Rot, grün, blau. Glänzende Eier, im Grasnest aneinandergerückt. Die Farben noch ohne Namen; als Gewicht jede anders schwer auf den Augen. Hingegeben ans gerundete Rot. Ein schmal Hochragendes, dunkeldrohend und scharfweiß in einem. Im Jahr darauf erkennt es den Birkenstamm. Die Birke wächst hoch neben dem Brunnenhaus. (aus: Schwalbenschrift) Eine Irritation ganz nahe. Als sie hinblickt, ist es ein Vogel, mit ausgespreizten Flügeln liegt er reglos vor ihr im Gras, schwarz und weiß, eine Schwalbe, aber diese sieht anders aus als ihre zutraulichen Verwandten unten im Bauernhaus, die hier ist größer, beinahe Angst einflößend. Sie hat Flügel wie Messer. Ein Mauersegler? Eine Turmschwalbe? Ist sie tot? Vorsichtig hob sie mit beiden Händen die Starre hoch. Jäh wird sie zurückgestoßen von der wilden Kraft, mit der sich der Vogel wegschwingt. Mit leichten Händen steht sie da. Dann wird aus dem Schrecken Freude, sie sieht dem Vogel nach, die Linie seines Flugs durchschneidet den leeren Himmel. (aus: Schwalbenschrift) Sie gehen den schneegefleckten Weingarten hinunter. Nur schwer lösen sich ihre Stiefel aus dem feuchten Löss; das Schmatzen begleitet sie, wie sie schweigend dahingehen. "Du kannst jetzt gehen", sagt die Tochter zu ihr. Die Frau holt sich zurück aus ihrer Abwesenheit: "Was soll das heißen?" "Wenn du jetzt nicht gehst, wirst du noch kränker und stirbst. Oder du wirst verrückt. Du brauchst nicht zu warten, bis auch ich aus dem Haus bin. Ich schaffe das schon." "Wie sprichst du zu deiner Mutter?", bringt sie in ihrer Verwirrung gerade noch heraus und weiß zugleich, mit solch kalter Stimme hätte das ihre eigene Mutter zu ihr sagen können. Schweigend gehen sie den Hügel hinunter. (aus: Schwalbenschrift) Zwischen Regenquadern reißen Lichtgründe auf In Nöten Zusammengeworfenes Steht jetzt als Vollendetes da Abend Morgen (unveröffentlichtes Gedicht von Ilse Helbich, nach dem die Künstlerin Susanne Haindl einen handgewebten Teppich angefertigt hat, der in der Veranda des Hauses hängt) Luzide schreiben. Die Geheimnisse sind ja dunkel genug. Die Geheimnisse sind ja dunkel genug und sie wenden ihr Antlitz ab, wenn ich meine Augen auf sie richte. (aus: Die alten Tage ) 1 Die Autorin Ilse Helbich hat erst in späten Jahren mit dem Schreiben begonnen. Das Buch "Schwalbenschrift" ist ihr erstes Werk, das literarische Protokoll einer persönlichen Entwicklung. 2 Ilse Helbich meditiert zweimal täglich, um "ihren inneren Kern zu finden". 3 Splitter der Erinnerung fügt Ilse Helbich in ihrem Roman zusammen. Wie wurde aus dem einsamen Mädchen eine reife Frau? 4 Mit 66 Jahren kaufte Ilse Helbich ihr erstes Haus, ihr erstes Daheim, wie sie sagt, eine ehemalige Poststation im Kamptal. 5 Ilse Helbich: "Ich finde das Leben einfach schön." *Welt der Frau* Judith Brandner


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Personen: Helbich, Ilse

Interessenkreis: Österreichische Autoren

DR/HEL Hel

Helbich, Ilse:
Schwalbenschrift : ein Leben von Wien aus / Ilse Helbich. - Bottighofen : Verl. ´Die Libelle´, 2003. - 240 S.
ISBN 978-3-909081-96-7 fest geb. : ca. Eur 19,50

Zugangsnummer: 0016726001 - Barcode: 01016777
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