Gestel, Peter van
Wintereis Roman
Buch

Ein Streichholz ist eine dürre und langweilige Sache. Und doch gibt es Menschen, die aus Streichhölzern die tollsten Modelle von Segelschiffen oder Kathedralen basteln, bei denen niemand sagen würde, sie wären dürr und langweilig. Auch Wörter können dürr und langweilig sein, sind es sogar oft. Und doch gibt es Künstler, denen aufsehenerregende Basteleien daraus gelingen. So etwa kann man diese Geschichte kurzcharakterisieren. Worum geht es? Unsere Geschichte spielt in Amsterdam, im eisigen und langen Winter 1947, also kurz nach dem Zweiten Weltkrieg. Der Krieg ist vorüber, aber nicht seine Folgen. Noch immer, und noch für Jahre, leiden die Menschen. Sie leiden an Hunger, Armut und Krankheit, vor allem aber an Verzweiflung. Denn nichts in ihrem Leben ist normal. Die deutsche Besatzung und der Terror der Nazis haben Seelen zerstört und Kindheiten, haben Familien zerrissen und Misstrauen gesät, haben aus einem kleinen Volk friedliebender Menschen eine Gruppe von Unglücklichen, Entwurzelten und Verstörten gemacht, die mühsam versuchen, wieder Normalität in ihr Leben zu bringen. Die Protagonisten des Buches sind zwei Jungen von zwölf Jahren, Thomas Vrij und Piet Zwaan, aus ganz unterschiedlichen Verhältnissen. Thomas ist ein schüchtern-ruppiges Arbeiterkind, der Vater ist Witwer, erfolgloser Schriftsteller und beginnt, da er in Holland keine Stelle findet, eine Arbeit für die englische Besatzung in Deutschland. Piet ist Jude, dessen Eltern verschleppt und ermordet wurden, aus reichem Hause und wohlerzogen. Doch so unterschiedlich die beiden sein mögen, sie werden Freunde, sind es eigentlich schon aus der Vorkriegszeit, doch das wird eher verdrängt. Im Verdrängen sind die Menschen dieser Geschichte sowieso Weltmeister: Es gibt so vieles, über das man nicht spricht, an das man besser nicht einmal denkt. Daraus erwächst einerseits eine ungeheure Sprachlosigkeit, die andererseits kompensiert wird mit einem Übermaß an flapsigen, zynischen oder vermeintlich lustigen Reden. Besonders erschreckend ist aber das Ausmaß an Gewalt, das die Menschen prägt. Offene Gewalt von Lehrern oder auch Mitschülern, ebenso aber verdeckte Gewalt durch Gefühllosigkeit und einengende Konventionen. In dieser Atmosphäre muss es schwer sein, Mensch zu bleiben und Freundschaft zu pflegen, doch eine Zeitlang gelingt das den Beiden. Sie lernen sogar, sich zu erinnern und über diese Erinnerungen zu sprechen, doch welche Qual steckt dahinter. Und diese Qual erschließt sich dem Leser gerade aus den immer dürrer und trockener werdenden Sätzen, die dennoch nichts Papierenes an sich haben. Und ganz allmählich, über viele Seiten hinweg, wird die Historie lebendig, tauchen wir ein in diese Vergangenheit, die wie ein Archetyp in jedem von uns drinsteckt, auch wenn wir erst viel später das Licht der Welt erblickten. Und wir weinen. Weinen, weil Menschen so lieblos miteinander umgehen konnten und können, weinen, weil dieses Buch uns nicht Zuschauer und Leser sein lässt, sondern Täter und Opfer werden lässt. Das wird nicht jeder gerne erleben, das ist kein Lesevergnügen, aber es ist eine der unmittelbarsten Geschichten, die ich jemals gelesen, nein, miterlebt habe. Eigentlich ist es sogar eine ganze Geschichtensammlung, denn in den großen Rahmen der Handlung sind viele Episoden eingeklinkt, die sich erst nach und nach zum Puzzle eines Gesamteindrucks fügen. Dabei überwiegt weniger berichtende Erzählung als vielmehr ständiger innerer und äußerer Dialog, manchmal auch Monolog. In Bayern gibt es eine Redensart: "S'is ja net, dass ma was sagt - ma red' ja bloß". Diesen Ersteindruck vermitteln ganze Teile des Buches, und doch erfährt man gerade aus ihnen am meisten über Befindlichkeiten und wahre Meinungen. Das ist ganz große Kunst und wirkt gerade wie die eingangs erwähnte Streichholzbastelei: Die Zutaten sind dürr und simpel, aber die Zubereitung und das Ergebnis überwältigen die Sinne. Daran ist sicher auch die Übersetzungskunst Mirjam Presslers beteiligt, der es gelingt, dem Buch einen absolut muttersprachlichen Klang zu verleihen. In ihrem Nachwort erfährt man noch einmal im Nachgang, welche geschichtliche Situation den Rahmen der Handlung bildet, ebenso die große Faktentreue, die hinter den Schicksalen steht. Ich halte dieses Buch für eine der ganz großen schriftstellerischen Leistungen zu einem in Deutschland wenig bekannten und wenig beachteten Teil der Historie, zu dem Deutsche ein entscheidendes, wenn auch äußerst unrühmliches Stück beigetragen haben, und in dem manches, was bis in die Jetztzeit zwischen unseren beiden Nachbarvölkern hineinspielt, seine Wurzeln hat. Überwältigend! *Alliteratus* Bernhard Hubner


Dieses Medium ist verfügbar. Es kann vorgemerkt oder direkt vor Ort ausgeliehen werden.

Personen: Pressler, Mirjam Gestel, Peter van

Schlagwörter: Freundschaft Pubertät Amsterdam

Interessenkreis: Jugend

Gestel, Peter van:
Wintereis : Roman / Peter van Gestel. Aus dem Niederländ. und mit einem Nachw. von Mirjam Pressler. - Weinheim : Beltz und Gelberg, 2009. - 333 S.
ISBN 978-3-407-74163-9 kart. : ca. Eur 9,20

Zugangsnummer: 2011/1297 - Barcode: 2-9040711-4-00002245-3
Romane und Erzählungen für Jugendliche ab 13 Jahren - Signatur: J Geste - Buch