Seit über 20 Jahren erlebt das Pilgern einen Boom, wie man ihn katholischerseits in der Aufbruchsstimmung nach dem II. Vatikanischen Konzil nicht für möglich hielt. Dass Theologie und Kirchen von diesem Boom schier überrollt wurden, zeigt der bis heute eklatante Mangel an theologischen Reflexionen und pastoralen Konzepten auf diesem Feld. Nachdem der Rezensent 2005 selber eine der wenigen einschlägigen Monografien katholischer Theologie vorgelegt hat, macht sich Detlef Lienau, Pfarrer und Mitglied der Kommunität Beuggen, an einen evangelischen Zugang zu diesem Phänomen. Das ist insofern bemerkenswert, als die evangelische Kirche auf eine lange Tradition der Ablehnung von Wallfahrten zurückblickt. Lienau stellt sich diesem Erbe seiner Kirche, versucht es historisch zu erklären und dann unter geänderten Rahmenbedingungen der Moderne zu relativieren, um im Kontext genuin evangelischer Theologie einen positiven Zugang zum Pilgern zu öffnen (11). Zu diesem Zweck nähert sich der Verfasser dem Pilgern oder Wallfahren (zwei Begriffe, die für ihn fast deckungsgleich sind, 50) von verschiedenen Seiten: Zuerst richtet er den Blick auf Aussagen der Bibel über das Pilgern und biblische Pilgerpersönlichkeiten (10-47). Unter Letztere zählt er spannenderweise nicht nur die klassischen Gestalten Abraham, Moses und die Emmausjünger, sondern auch Eva und Adam, Kain, Noomi und Rut. Ein zweiter Zugang erfolgt über einen geschichtlichen Durchgang v.a. der mittelalterlichen Wallfahrtspraxis und der reformatorischen Kritik (48-77). Statistiken und Erfahrungsberichte bilden das Material für die Analyse heutigen Pilgerns, wobei auch bei den Erfahrungsberichten neben die Klassiker von Paolo Coelho und Hape Kerkeling zwei weniger bekannte Bücher von Carmen Rohrbach und Lee Hoinacki treten (78-105). Auf diesen drei Säulen aufruhend, erfolgt schließlich im vierten und letzten Schritt eine systematisch-theologische Reflexion des Pilgerns (106-172). Lienau schreibt gut verständlich, hat eine klare theologische Position, von der aus er die verschiedenen Entwicklungen des Pilgerns bewertet, und geht mit seinem Material sehr sorgfältig und einfühlsam um. Die Balance von Nähe und Distanz zu heutigen Pilgerpraktiken wird durchgehend gehalten. Besonders sympathisch sind die Abschnitte, in denen der evangelische Theologe dezidiert katholische Wallfahrtsbräuche interpretiert wie z. B. den Reliquienkult oder das Ablasswesen (60-65). Der positiven Wertschätzung des letzteren kann der katholische Rezensent allerdings nur bedingt folgen. Dennoch trägt das Buch viel zur ökumenischen Verständigung auf einem wichtigen Zukunftsfeld der Pastoral und Spiritualität bei. Darüber hinaus hat der Rezensent eine Reihe überraschend neuer Sichtweisen dort gewonnen, wo Lienau sehr sensible Textinterpretationen anbietet. Schließlich entsteht im letzten Teil ein durchaus konsistentes, theologisch reflektiertes und anspruchsvolles Bild christlicher Wallfahrt, das Beachtung verdient. Diese vielen positiven Aspekte würdigend, fallen aber auch einige wenige Schwächen auf: Wie Lienau sein Material aus Bibel, Geschichte und heutigen Pilgererfahrungen theologisch verarbeitet, macht er nie zum Thema. Seine Methodik und Hermeneutik kann man nur erahnen - sie werden nicht ausgewiesen und reflektiert. Eine zweite Schwäche betrifft den sehr lockeren und freizügigen Umgang mit Quellenangaben und Zitatbelegen. Für ein erklärtermaßen theologisches und damit (populär-)wissenschaftliches Buch hätte man schon eine präzisere und konsequentere Zitationspraxis gewünscht. Und drittens halte ich den Untertitel für irreführend: "Warum Menschen pilgern" lässt eher an eine soziologisch-deskriptive denn an eine theologisch-normative Abhandlung denken. Ob hier verkaufsstrategische Überlegungen des Verlags die Oberhand gewannen? Insgesamt ist aber ein sehr lesenswertes und gewinnbringendes Buch entstanden. Allen, die ihr Pilgern reflektiert gestalten wollen, sei es dringend ans Herz gelegt.

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Personen: Lienau, Detlef