Was niemand weiß
Buch

Tonke Dragt (Text) und Annemarie van Haeringen (Illustration) erzählen und bebildern eine Fantasiegeschichte über das Fabelwesen Einhorn und benutzen dazu die alttestamentliche Sintflutsage Genesis 6 - 8.


Rezension

Begründung zur Nicht-Empfehlung des Bildesbuches "Was niemand weiß" für evangelische Büchereien: In der Sintflut-Erzählung des AT werden alte mündlich überlieferte Traditionen und zwei vermutlich schon als schriftliche Quellen vorliegende Texte (Jahwist und Priesterschrift) verarbeitet. Ähnliche Flutsagen sind aus anderen Natur- und Kulturvölkern der Antike bekannt, die häufig mythisch ausgeschmückt sind und lokale Besonderheiten zeigen. Der AT-Text ist verknüpft mit der Verheißung Gottes durch seinen Bund mit Noah (Genesis 8,22): "Solange die Erde steht soll nicht aufhören Saat und Ernte, Frost und Hitze, Sommer und Winter, Tag und Nacht", einer zentralen Aussage im Judentum und Christentum also. Tonke Dragt stellt ihrem Text folgende Bemerkung voran: "Die Idee zu dieser Geschichte basiert auf verschiedenen alten, anonymen Überlieferungen". Ähnlich geheimnisvoll mutet auch der Titel des Buches an: "Was niemand weiß". Allerdings verrät der rückwärtige Buchdeckel dann: "Die Menschen wussten nicht, dass es regnen und immer wieder regnen würde und dass eine große Flut bevorstand. Nur Noah wusste es. Und Noah baute ein Schiff. Auch die Tiere wussten es nicht - außer den Einhörnern." Mit diesen Sätzen beginnt auch die merkwürdige Verfremdung des alt vertrauten Textes. Erstaunlicher Weise beauftragt Noah seine Söhne, die Tiere paarweise mit Seilen, Netzen und Stangen einzufangen. Die Tiere widersetzen sich, werden in Käfige gesperrt und empfinden die Arche als unheimlich. Noah vermisst ein Tier und wird seinen Söhnen gegenüber ungehalten: "Das schönste, das beste, das liebenswerteste Tier von allen. Das Einhorn!" Die Söhne haben keine Einhörner gefunden und argwöhnen, es gäbe gar keine und verbannen sie als Fabeltiere ins Reich der Märchen. Doch schon ist ein Einhorn zur Stelle und widersetzt sich selbst Noahs Anweisungen. In seinem Landkarten-Gewand (?) wird er da zu einer fragwürdigen Autorität. Das Einhorn schwimmt mit seiner Frau neben der Arche her. Die Vögel suchen nun vor dem steigenden Wasser Schutz auf dem Dach, das bald besetzt ist, so dass sich weitere Vögel auf den Hörnern der schwimmenden Tiere niederlassen. Schließlich bewirkt ein Spatz zu viel auf dem Einhorn, dass beide Tiere untergehen, allerdings nicht ertrinken, sondern sich in Meereseinhörner / Narwale verwandeln und im nördlichen Eismeer verschwinden. Ein recht unkritisch wirkender Gegenwartsbezug stellt das Ende dieser erdachten Geschichte dar: "Jetzt steigt das Wasser der Meere, und es wird immer wärmer, wer weiß, vielleicht will der Narwal irgendwann wieder ein Landeinhorn werden! Wenn es auf dem Land wieder Urwälder gibt, in denen man umherstrolchen kann, und ausgedehnte Felder, um darüber zu traben." Auf dem rückwärtigen Buchdeckel erscheinen die verheerenden Folgen des Klimawandels in der Verlagswerbung nicht: "Tonke Dragt und Annemarie van Haeringen erzählen die fantastisch schöne Legende von einem erstaunlich wandelbaren Tier, das endlich wieder auf der Erde landen will - vorausgesetzt, das Klima erlaubt es." Die Sintflutgeschichte hat ausgedient und bricht an dieser Stelle kommentarlos ab. Was soll diese befremdende Vermischung von biblischem Text und säkularer Legende, die konstruiert wirkt und doch geheimnisvoll auf "alte anonyme Quellen" verweist? Ein jüdisch-christlicher Text wird umgeschrieben, damit die Sonderrolle des Fabeltiers Einhorn für Kinder nachvollziehbar und erlebbar wird? Noah ist zwar an dieser Stelle nicht Herr der Lage, aber er kennt Einhörner als liebenswerteste Tiere. Eine solche Darstellung suggeriert: Dieses Tier muss es wirklich geben bzw. gegeben haben! Das Vorgehen macht das Verstehen der alttestamentlichen Legende von der großen Flut für Kinder nicht leichter, wenn ein als Fabeltier bekanntes Wesen in einen religiösen Text eingebunden wird, selbst wenn Noahs Söhne Zweifel hegen dürfen. Richtet man die Aufmerksamkeit auf das Fabelwesen Einhorn, so könnte sich das Geheimnis ein wenig lüften lassen. Das Einhorn, seit der Antike als Fabeltier in Pferdegestalt mit geradem spitzem Horn auf der Stirnmitte bekannt, gilt als Symbol für Wildheit und Stärke, aber auch als solches für das Gute. So findet es sich in Familien- und Herrscherwappen, in Haus- und Apothekennamen und auch als Sternbild der Äquatorzone. Mit der Säkularisierung breiter Bevölkerungsschichten wächst - in der Bundesrepublik und weltweit beobachtbar - das Interesse an alternativen Ersatzreligionen, okkulten Bewegungen und Patchwork-Philosophien, die nicht ohne Symbole auskommen. Das können z.B. Fabeltiere oder Geistwesen sein, die in der Wirklichkeit nicht existieren, an deren Vorhandensein dennoch vielfach geglaubt wird und denen magische Kräfte zugeschrieben werden. Das Einhorn spielt dabei eine führende Rolle in der Literatur, in der Magie, in der darstellenden Kunst, in der Esoterik. Amulette und Poster bis hin zu Kinderspielzeug und Abbildungen auf täglichen Gebrauchsgegenständen beherrschen das einschlägige Marktsegment. Auch Spaß-Religionen bedienen sich dieses Symbols, z.B. gilt das unsichtbare, rosafarbige Einhorn als weibliche Gottheit einer atheistischen Gruppierung, die sich seit 1990 der Religionsparodie verschrieben hat. Das Bilderbuch mit der Einhorn-Legende scheint gut in diesen Marktsektor zu passen, zumal es thematisch an religiös Bekanntes (Sintflut) anknüpft und damit auch Menschen mit noch christlichem Hintergrund zum Kauf verlocken könnte. Es ist im Verlag Freies Geistesleben, der sich anthroposophischem Gedankengut verpflichtet weiß, herausgekommen und vertritt damit eine verschiedene Bereiche umfassende und ständig wachsende Bewegung (biologisch-dynamische Wirtschaftsweise, Eurhythmie, Waldorfschul-Pädagogik), deren praktischer Erfolg nicht geleugnet werden soll. Der ideologische Überbau jedoch sollte nicht kritiklos hingenommen werden, zumal er häufig nicht aufgedeckt wird, sondern geheimnisvoll im Hintergrund wirksam bleibt und nicht für jeden verstehbar werden soll. Es würde hier zu weit führen, die zahlreichen wissenschaftlich-kritischen Untersuchungen über Rudolf Steiner "Akasha-Chronik", einer Quelle, in der alles Wissen über Vergangenheit und Zukunft gespeichert ist und mit Hilfe derer er Zugang zu unumstößlichen Wahrheiten zu haben vorgibt, darzustellen. Rudolf Steiner und die heutigen Rezipienten dieses okkulten Gedankengutes korrigieren christliche Grundüberzeugungen. So sind z.B. Reinkarnation und Karma, wie sie in der anthroposophischen Christologie vertreten werden, nicht in Einklang zu bringen mit den Grundaussagen des Neuen Testaments. Eine Vermischung christlicher Ideen mit anderen philosophischen Überzeugungen paart sich hier mit einem religiösen Geheimwissen, zu dem nicht jeder Zugang hat und mit dem man sich von der übrigen Menschheit abhebt. Das taten schon die Gnostiker im alten Griechenland. So entsteht eine spezielle Form der Esoterik, deren Wissen nur einem inneren Kreis erschließbar ist, die aber nach außen erfolgreich als Ersatzreligion mit Sagen und Mythen agiert und kommerziell einträglich zu sein scheint. Die Illustration - großflächige, wenig gestaltete Farbpinselstriche und vorwiegend Schwarz-Weiß-Zeichnungen - unterstreicht die skurrile Verfremdung des biblischen Textes.

Ein anthroposophisches Bilderbuch, das mit einer Fantasiegeschichte über das Fabeltier Einhorn die Arche-Noah-Geschichte ins Abseits bringt, sollte nicht in evangelischen Büchereien zu finden sein.

Rezensent: Margot Rickers

Personen: Dragt, Tonke Haeringen, Annemarie van

Was niemand weiß / Tonke Dragt. Ill. von Annemarie van Haeringen. - 1. Aufl. - Stuttgart : Verl. Freies Geistesleben, 2008. - O.Pag.: überw. Ill. ; 27 cm. - Aus d. Niederländ.
ISBN 978-3-7725-2189-8 geb. : EUR 13.90

Zugangsnummer: 0002/3592
Bilderbücher (einschl. Märchen- u. Sachbilderbücher) - Signatur: Jm 1 Was - Buch