Pollack, Martin
Kontaminierte Landschaften
Sachbücher für Erwachsene

Topografie der verdrängten Verbrechen Martin Pollacks Essay "Kontaminierte Landschaften" In langen Kameraeinstellungen werden in Claude Lanzmanns neuneinhalbstündigem Film Shoah (1985) wiederholt scheinbar unverdächtige Landstriche abgefahren, Waldstücke, Wiesen, Raine. Erst nach und nach, über die Erzählungen jener Überlebenden des Holocaust, mit denen der Regisseur sich an historische Schauplätze begeben hat, wird evident, welche Massaker an den jeweiligen Orten stattgefunden haben und welche Massengräber der Boden dort fallweise immer noch birgt. Auch Martin Pollack nähert sich in seiner jüngsten literarischen Spurensuche eingangs dem Topos der Landschaft über jene vorderhand erbaulichen, ja idealen Bilder, mit denen wir sie wohl alle assoziieren - sämtlichen zivilisatorischen Eingriffen zum Trotz. Für das Doppelbödige zumal in Bezug auf Landschaftsräume sensibilisiert wurde Pollack erst im Zuge der Auseinandersetzung mit seiner schwer belasteten Familiengeschichte. Als Gestapomitglied und SS-Sturmbannführer hatte sein leiblicher Vater Gerhard Bast von Anfang an federführend am Terrorregime der Nationalsozialisten und deren "völkischer Flurbereinigung" im Osten mitgewirkt. Die Urbarmachung etwa der Pripjatsümpfe im heutigen Weißrussland und der dort verübte Völkermord wurden von den Deutschen unter dem Vorwand der Umwidmung in Siedlungsraum betrieben. Mehrdeutige Befehle wie "Judenweiber in die Sümpfe treiben" oder "in den Morast schicken" galten den NS-Obersten als Chiffren für die Massentötungen weit außerhalb ihrer Vernichtungslager. Anders als Lanzmann, der die namentlich bekannten, fest umrissenen Orte des industriellen Massenmords thematisiert - Auschwitz, Treblinka, Be?z.ec, Che?mno und das Warschauer Ghetto -, macht Martin Pollack sich auf die Suche nach den Spuren des "vergessenen Holocaust" in jenen ostmitteleuropäischen Gebieten, die er selbst im Laufe der Jahre in Augenschein genommen hat. Ganz im Gegensatz zu den meist großmächtigen Gräberanlagen für Soldaten ließ man über die hunderttausenden in abgelegenen Gegenden Verscharrten einfach Gras darüber wachsen - im eigentlichen Sinn. Kaum eine Erinnerungstafel ist ihnen gewidmet, selbst die Zahlenangaben über die anonymen Opfer sind vage. Die russische Regierung weigert sich in vielen Fällen bis heute, die Taten des stalinistischen Terrors aufzuklären und Dokumente zugänglich zu machen. Auch wenn trotz dieser anhaltenden Arkanpolitik einige Stätten mittlerweile ins öffentliche Bewusstsein rückten, wie etwa Babyn Jar bei Kiew, wo man über 30.000 erschossene Juden in einer Schlucht entsorgte, sind die Orte für immer stigmatisiert; eine Rückkehr zur Normalität scheint den im Umkreis Wohnenden unmöglich. Um die Spuren der Toten wie jene der Täter auszulöschen, nutzten Letztere das Potenzial natürlicher Gegebenheiten. In Koc?evski Rog, dem Gottscheer Hornwald, im heutigen Slowenien beispielsweise wurden auf Weisung Titos kurz nach Kriegsende 1945 tausende Domobranci und kroatische Ustaši ohne Gerichtsverfahren exekutiert, ihre Leichname warf man zusammen mit lebenden Gefesselten in die Karsthöhlen vor Ort oder mauerte sie in ehemalige Bergwerksstollen ein. - Gerade die Gegend der Gottschee aber war für Martin Pollack lange Zeit der Inbegriff einer fast mythischen Waldlandschaft: Nur zu gerne erzählte ihm sein Großvater, ein passionierter Jäger, von seinen einstigen Abenteuern dort, den üppigen Fischgründen, den Bären und Wölfen. Diese magische Männerwelt, in die er sich und seinen Enkel qua Einbildungskraft versetzte, half wohl beiden, die widrige Realität der ersten Nachkriegsjahre auszublenden. Die konsequente Verdrängung der historischen Fakten seitens der deutschnationalen Verwandten des Autors taten das Ihre zu dieser gefilterten, geschönten Sicht. Wie in seinem bekanntesten Buch Der Tote im Bunker anschaulich geschildert, zerfiel ihm im Zuge der Nachforschungen über seine Familien­geschichte freilich dieses imaginäre Paradies. Die Jagdhütte des Großvaters war bei späteren Erkundungen nicht mehr zu finden, stattdessen kam die Tatsache der Massengräber dort auf ihn. Mit der Wahrheit, die weh tut, konfrontiert Pollack uns im Verlauf des Essays immer wieder. In sachlichem Tonfall vorgetragene Passagen zur allgemeinen Problematik wechseln mit Beispielen persönlicher Betroffenheit, die jedoch ebenso nüchtern gehalten sind. "Die kontaminierten Landschaften sind überall", so die bittere Conclusio. Selbst seine jetzige Wohngegend im Südburgenland, seine ausgedehnten Streuobstwiesen sind von der Vergangenheit vergiftet. In Rechnitz etwa wurden 1945, kurz vor Kriegsende, an die zweihundert ungarische Juden hingerichtet; Elfriede Jelinek hat diese bis heute kollektiv verdrängte Tat 2012 über ihr Stück Der Würgeengel in den Blick gerückt. Schweigt die Bevölkerung aus allgemeiner Scham über das Zulassen des Ver­brechens? Aufgrund familiärer Verstrickung? Aus Sorge um das Ansehen des Orts? Immer wieder hält Martin Pollack inne, um Fragen sowohl an sich selbst wie an die Lesenden zu richten. In einer Reportage unter dem Titel Warum wurden die Stanis?aws erschossen? hat er vor einigen Jahren versucht, für einen konkreten Fall aus seinem Wohnort Bocksdorf Antworten zu finden. Zwar gelang es ihm, die Lebensumstände der beiden jungen polnischen Zwangsarbeiter einiger­maßen zu rekonstruieren; die Beweggründe für den Mord an den offenbar sozial gut Integrierten blieben jedoch unerklärlich. Nur so notdürftig verscharrt, dass die Beine aus der Erde ragten, wurden die Toten immerhin später auf dem Dorffriedhof bestattet. Von Beispielen wie diesen abstrahierend etabliert Martin Pollack gleichsam eine Typologie der vergessenen Verbrechen, bei denen man fast versucht ist, die Natur als Kollaborateurin anzusehen. Nicht nur, dass die Täter die Stellen über den Massengräbern meist land- und forstwirtschaftlich kundig rasch wieder begrünten (der dafür geläufige Begriff der "Kultivierung" wirkt auch auf sprachlicher Ebene kaschierend). Sie wussten sich gegebenenfalls auch der alles verschlingenden wie reinigenden Kraft des Wassers zu bedienen. Der Unterlauf der Donau gleicht einer großen Leichengrube; Seen und Teiche froren mitunter durch die Verwesungsgase der dort Versenkten selbst im kältesten Winter nicht mehr zu. Bei aller Schwierigkeit, mit der die Suche nach ehemaligen Hinrichtungsstätten verbunden ist, mahnt uns Pollack, sich dem Thema dennoch zu stellen: "Wir müssen alles tun, um die unbekannten Opfer der Massengräber in den kontaminierten Landschaften dem Vergessen zu entreißen und ihnen ihre Namen und Gesichter und ihre Geschichte wiederzugeben." Es gälte, möglichst viele Informationen zu sammeln, so widersprüchlich sie sein mögen. Auch wenn der Abgleich zwischen damaliger und heutiger Topografie ein mühsames Unterfangen ist, weiß die Bevölkerung vor Ort meist noch um die Stätten und die Umstände der Exekutionen, um Flurnamen, die Außenstehenden nichts sagen. Lufbildaufnahmen können Auskunft über verräterische Bodenerhebungen oder Senken geben, über auffallende Veränderungen im Bewuchs. Spezielle geophyhische Untersuchungen erlauben eine genaue Lokalisierung; die minimalinvasiven Möglichkeiten der forensischen Archäologie gestatten präzisere Aussagen über die Beschaffenheit der Gräber, ohne die Toten zu exhumieren - was jüdische Religionsvorschriften untersagen. Darüber hinaus stößt man bei Internet-Auktionen nicht selten auf Knipserfotografien, die von derartigen Massenmorden zeugen und so gut wie immer von den Tätern aufgenommen worden sind. Die Frage nach der "Kontaminierung" auch der Bilder wurde, dies nebenbei bemerkt, in fotografiehistorischen Kreisen zuletzt des öfteren diskutiert - haftet an ihnen doch etwas von der makabren Situation, in der sie entstanden. Aus dem Grund auch hat Claude Lanzmann zumindest in Shoah auf bildliches Dokumentationsmaterial zur Gänze verzichtet. Martin Pollack dagegen, der in seine Bücher gelegentlich ­historische Fotografien einbezieht, plädiert in seiner kritischen Schrift dafür, sich trotz allem ein Bild der klandestinen Vernichtungen zu machen. Die Ausflucht über den Begriff des "Unvorstellbaren" oder eine generelle Amnesie würden die Absichten der Täter nach Vertuschung nur bekräf­tigen. Unruhe bewahren - in der so betitelten löblichen Reihe des Residenzverlags erschienen, möchte man diesem Buch nicht nur ein breites Lesepublikum hierzulande wünschen, sondern auch, dass es, ehebaldigst in die Sprachen der osteuropäischen Länder übersetzt, vor allem dort zum Nach- und Umdenken anregt, wo es momentan gewaltig schwärt.


Dieses Medium ist verfügbar. Es kann vorgemerkt oder direkt vor Ort ausgeliehen werden.

Serie / Reihe: Unruhe bewahren

Personen: Pollack, Martin

Pollack, Martin:
Kontaminierte Landschaften / Martin Pollack. - St. Pölten : Residenz-Verl., 2014. - 117 S. - (Unruhe bewahren)
ISBN 978-3-7017-1621-0 kart. : ca. Eur 17,90

Zugangsnummer: 0006697001 - Barcode: 2000067519
Geschichte - Signatur: GE Poll - Sachbücher für Erwachsene