Prosser, Robert
Phantome Roman
Buch

Tote Winkel, rote Fäden Robert Prossers großartiger Roman »Phantome« Unglaublich, wiederholte er, wie konnte so etwas möglich sein? Dann kam die Nacht, als an seine Tür geklopft wurde. Auf der Straße und den Stufen zu den Nachbarhäusern sah er bewaffnete Männer«. Bosnien 1992 und eine immer wieder gestellte Frage. Wie in einem Europa, das aus Auschwitz seine Lehren gezogen zu haben meinte, die Greuel von Srebrenica und der Jugoslawienkriege verübt werden konnten. Auffallend wenig war lange Zeit in österreichischer Literatur darüber zu lesen, bis Norbert Gstrein in seinem Roman Das Handwerk des Tötens eindringlich zu verstehen gab, dass es sich nicht nur um Balkangeschichten handle. Nun hat sich Robert Prosser, gewiss einer der bemerkenswertesten Sprachkünstler der jüngeren Generation, des Themas angenommen. In seinem hochinteressanten Debüt Geister und Tattoos hatte der studierte Kultur- und Sozialanthropologe eine auf intensiver Recherche basierende Prosa vorgelegt, die in ansprechendem Stil und angemessener Form eine Weltgegend und Menschen nahebringt, wie man sie in heimischer Literatur noch nicht zu lesen bekommen hat: Eine Gruppe von Soldaten in Berg-Karabach, an der Grenze von Armenien und Aserbeidschan, die des Kämpfens überdrüssig sind und sich mit ihren Familien in den Wald eines kaum auffindbaren schroffen Tales zurückziehen. Für seinen zweiten Roman setzte Prosser erneut seine anthropologische Methode ein, um von Bosnien im ersten Kriegsjahr 1992 und den Folgen zu erzählen. Wie die Tattoos, so sind diesmal Graffitis und andere Wandsignale die populären Selbstbezeichnungen, die eine Abkehr von gewöhnlichen Gesellschaftsformen zeigen. Um einen Kern von drei Hauptfiguren schildert Phantome in drei Teilen viele Schicksale, mitunter in Blitzlichtern. Die Geschichten und Szenen von Abgründen, Massakern, Gräbern, Flucht, von Liebe, Freundschaft, Hilfe fügen sich – wie es der serbische Bosnier Jovan gegen Ende ausdrückt – zu einem »Splitterwerk«. Es besticht in Aufbau und Stil, mit seinen Bildern und Aussagen lässt es erschaudern. Er sei, betont Robert Prosser, bei Recherche und Schreiben »auf Fragen gestoßen, die mich nach wie vor umtreiben: Wie geht man mit den Erfahrungen von Krieg und Flucht um?« Was geben Denken, Fühlen und Erinnerung wider, sind sie medial und politisch manipuliert? Wie leicht lassen sich Feindbilder erzeugen und inszenieren? Und nach den Protesten, die 2014 von Tuzla ausgingen: »Wohin mit all der Energie und mit dem gleichzeitigen Frust, dass die EU als Versprechen von Glück und Zukunft so nahe ist, dieses Versprechen aber nicht eingelöst wird?« Es sind Fragen, »die weit über Bosnien hinausreichen«, weiß Prosser. Seine kluge Konstruktion gliedert den Roman in drei Teile, zwei kürzere spielen im Jahr 2015. Im langen Mittelstück über 1992 gibt die Er-/Sie-Erzählung zwar in der dritten Person Distanz vor, vermittelt aber zugleich mit dem Präsens den Eindruck des direkten Einblicks. Im Rahmen, im ersten und dritten Teil, erstehen nach fast einem Vierteljahrhundert die Folgen der Ereignisse und die Rückblicke aus der Ich-Perspektive, zunächst in der Vergangenheitsform, im Schlussteil als Innerer Monolog. Derart ist die narrative Möglichkeit einer Vielzahl von Standpunkten und Geschichtssplittern gegeben, ganz gegen politische und mediale Vereinfachungen. Gegen die Fernsehbilder müsse man eine andere Distanz suchen, um eine andere Nähe zu gewinnen, hatte Norbert Gstrein in seinen Erläuterungen Wem gehört eine Geschichte zum Roman Das Handwerk des Tötens gefordert. Bei Prosser zieht im ersten Teil ein junger Österreicher als Graffiti-Sprayer durchs nächtliche Wien. Während er sich in den Untergrund der Stadt und seines Tuns begibt, erinnert er sich an die Bosnien-Reisen mit seiner Geliebten Sara, deren Mutter Anisa 1992 nach Wien geflüchtet war. Bosnien und Graffitis, beides funktioniere nach Regeln, die für Außenstehende schwer zu durchblicken seien: »Heillos kompliziert sind die Verbindungen und Feindschaften, die ein verworrenes Netzwerk über ein Land spannen.« Die gewiefte Motiv-Verbindung erschien mir bei der Lektüre gleich völlig plausibel, indem mir Bilder in den Sinn kamen, die bei Prosser zwar nicht explizit auftauchen, jedoch implizit mitlaufen. Fotos von der olympischen Bobbahn in Sarajevo zeigen ein Betonband mit Einschusslöchern und Graffitis. Der ehemalige Eiskanal, der 1984 bei den Winterspielen, dem vorgeblichen Fest des Friedens, tollkühne Talfahrten ermöglichte, diente kaum ein Jahrzehnt später im Krieg als Schützengraben. Will man heute die Bahn besichtigen, lässt man sich besser von einem Ortskundigen begleiten, der um die im Wald steckenden Minen Bescheid weiß. Der Ansatz von Phantome spielt die im Titel stehenden, scheinbar aus dem Nichts auftauchenden Widerspiegelungen an, dabei gibt das Sprayen ein konkretes Abbild der Erzählweise und des entsprechenden Stils. In diesem, vom Soziolekt der Graffiti-Szene geprägten Abschnitt hat die Sprache den Drive einer untergründigen Gegenkultur. Die vielen »Graffs« versteht der junge Wiener »wie Boten der Ausschreitungen«. In Bosnien stoßen er und Sara ständig auf Kriegsfragmente der näheren und kurz auch der ferneren Vergangenheit, vom KZ Jasenovac aus der Nazi- und Ustasha-Zeit bis Srebrenica. Hier, bei einer Gedenk- und Begräbnisfeier, erreicht ihre Reise die höchste Intensität: »überall sah ich Menschen, sah ich Gesichter, Einschusslöcher, Ruinen, überall Geschichten, Zeugnisse von Tod und Gewalt, von Überleben, Weiterleben, ganz Srebrenica war eine einzige Überforderung.« Und hier wird dem Außenstehenden die Bedeutung des Erzählens bewusst. Den Überlebenden ist es wichtig, »einem Fremden davon zu erzählen, jemandem, der nachfragte und interessiert war, und wichtig für mich, weil den Ermordeten dadurch eine Gestalt gegeben wurde.« Der zweite Teil des Romans ist eine lange Reise in die Vergangenheit des Jahres 1992, geschildert abwechselnd aus der Sicht von Saras Mutter, der muslimischen Anisa, und von deren Geliebten, dem Serben Jovan. Mit Beginn des Krieges werden die beiden jungen Leute getrennt; er muss in die Armee, ihr gelingt später die Flucht nach Wien. Im Nachhinein der schauerlichen Ereignisse meint Anisa zu verstehen, wie weit ihre beiden Welten voneinander entfernt waren: »Die Faszination lag im Eingeständnis, dass der Glaube, den anderen zu kennen, eine Täuschung ist.« Während sie in Wien schwer an den Erlebnissen trägt und ein Flüchtlingsstrom einsetzt, den man hierzulande nur noch aus dem Jahr 2015 zu kennen meint, desertiert er erfolglos und ist vom Krieg bis zur Selbstaufgabe überrollt. Der dritte Teil sodann ist Jovans Abgesang. Lieder und Songs, Kassettenrecorder und Walkman spielen in der feinen Motivik des Romans eine ebenso wichtige Rolle wie Fotos, das Zeichnen und die Malerei. Der Krieg ist ein Angriff auf die Kultur; in Musik und Gesang äußern sich Identitätssignale, die Bilder verleihen Kulturmerkmalen sowie auch Phantomen der Vergangenheit Gestalt. Welches Bild bleibt von Vermissten? Jovan malt in Belgrad ein Porträt von Anisa auf die Wand seines Dachverstecks, »weil die Erinnerung allein nicht ausreichte«. Später benutzt er muslimische Volkslieder, »um Anisa als Phantasie zu bewahren« und befürchtet, dass sie »ganz in solche Märchen abrutscht und er gar nicht mehr weiß, wie und wer sie wirklich war«. Inzwischen fasziniert Anisa ein Gemälde im Kunsthistorischen Museum, in dem sie ihre Situation widergespiegelt sieht. Schließlich denkt sie, die Personen all dieser Geschichten würden an roten Fäden hängen, »von Vergangenem, Verlorenem dirigiert, den toten Winkeln«. Feine rote Fäden hat Robert Prosser in die Tiefenstruktur seines Romans eingeschrieben. So tauchen die Zeichen an der Wand – die Graffitis, Menetekel und Abwehrsignale – oft und oft auf. So zeugen Fußball-Ultras sowohl in Wien als auch im Jugoslawischen von Gewaltausbrüchen, die zum Krieg führen, »die Grenze zwischen Ich und Wir verwischt«. Der Sprayer war bei den Ultras von Rapid; in der Nähe von Srebrenica »ehren Graffitis« die Delije, die wildesten Horden von Partizan Belgrad. Dieses Team trat im Mai 1990 in Zagreb an, eine Massengewaltorgie verhinderte, live im Fernsehen übertragen, den Anpfiff des Matches – dies gilt als eines der Beginnzeichen der Jugoslawienkriege. Die Ultras waren die ersten Freiwilligen der Heeresverbände, vom Stadion an die Front. Einer der berüchtigten Warlords nannte sich Arkan, seine »Tiger« rekrutierte er von den Delije, deren Anführer er schon auf den Tribünen war. Bei Prosser hat er einen kurzen schrecklichen Auftritt. Derart ist Phantome ein äußerst eindringlicher Roman, ein sprachmächtiges Werk von ethnographischer Genauigkeit und Verve, das zusammenhangreiche Einblicke in Geschichten bietet, die unweit von Österreich und dennoch in unendlicher Entfernung geschehen sind. Robert Prosser macht sie vorstellbar, in anderer Nähe und Distanz; nachvollziehbar können sie für uns nie sein.

Freigegeben ab 18 Jahren.


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Personen: Prosser, Robert

Pross

Prosser, Robert:
Phantome : Roman / Robert Prosser. - 2. Aufl. - Berlin : Ullstein fünf, 2017. - 332 S. ; 21 cm
ISBN 978-3-96101-009-7 fest geb. : EUR 20.00

Zugangsnummer: 2018/0122 - Barcode: 2-1140257-0-00020564-1
Schöne Literatur - Buch