Murail, Marie-Aude
Das ganz und gar unbedeutende Leben der Charity Tiddler
Buch

Am Anfang ist da niemand, der die kleine Charity dabei stört, ein eigenartiges Kind zu werden: Die Mutter, heißt es, "gehörte zu jenen damals zahlreichen Personen, für die ein Kind schlimmstenfalls zwar gesehen, aber niemals gehört werden sollte". Der Vater ist, wenn nicht im Club, in seinem Arbeitszimmer. Betreut wird Charity weit weg im dritten Stock des Hauses von den Dienstboten, wobei das Kindermädchen Tabitha, eine Schottin mit großem Vorrat an Liebesgeschichten, die in der Regel ziemlich schlecht ausgehen, schon früh eine Tendenz zum Wahnsinn zeigt. Für zusätzliche Gesellschaft muss das kleine Mädchen selbst sorgen: Es beginnt mit Mäusen, Miss Kleinschritt und Miss Tutu, der erste Vogel wird noch mit Porridge erstickt, der Rabe Petrucchio bleibt lange und wird später zum Gaudium der Kinder und zum Schrecken der Erwachsenen unter anderem "Rule, Brittania!" krächzen. Da ist Charity allerdings schon älter und wird nicht mehr für ein "geistig etwas beschränktes junges Mädchen" gehalten, was ihr "alle Chancen auf einen Ehemann wahrte", sondern für "originell". "Originelle junge Mädchen reihten sich jedoch eines Tages in die Bataillone der exzentrischen alten Jungfern ein." Davor kommt allerdings noch jede Menge Kleingetier, Shakespeare - knapp zehnjährig lernt Charity den ganzen "Hamlet" auswendig - und das Aquarellieren, das sie von ihrer Gouvernante Madmoiselle Blanche, die Vertraute und Freundin werden wird, lernt, allerdings anfangs für wissenschaftliche Zwecke einsetzt und erst sehr viel später für Bilderbücher. Was ist das für eine eigenartige Figur, die lange sperrig bleibt und einem dann so sehr ans Herz wächst, die eine Haltung brutaler Zärtlichkeit ihren Tieren wie den Dramentexten Shakespeare gegenüber einnimmt und doch ihrem Namen Ehre macht, die anfangs und lange ungeduldig und später dann bisweilen fast resigniert darauf wartet, dass etwas passiert, um in entscheidenden Momenten immer das Heft in die Hand zu nehmen. Dass sie Kenneth, den anderen Außenseiter, am Ende bekommen wird, das ahnt man früh und daran verliert man bisweilen den Glauben. Den an die Menschen der mehr oder weniger reichen oberen englischen Mittelschicht im ausgehenden viktorianischen Zeitalter hat man jedenfalls bald verloren. Marie-Aude Murail erweist sich in ihrem jüngsten Buch als großartige Erzählerin: Sie inszeniert diese fiktive Biografie Beatrix Potters aus der Perspektive der Heldin, allerdings retrospektiv. Sie lässt sie nie aus der Rolle fallen, passt ihren Widerstand der Zeit an, entwickelt dabei eine höchst komplexe und eigenwillige Figur, die doch glaubwürdig ist. Auch als die moderne Frau, die sie am Ende ist, die sich nicht nur von ihrer Familie emanzipiert und ein Leben in Unabhängigkeit erreicht hat, sondern zudem glücklich geworden ist. Durchgehend werden in den Prosatext kleine Minidramen eingestreut, in denen die Charity Shakespeare deklamiert, Gespräche mit ihrer Mutter oder den Cousinen führt und später dann zunehmend solche mit Kenneth, in denen sich die beiden als ebenbürtig belesen, geistreich und witzig erweisen. Je länger die Lektüre andauert, desto unterhaltsamer wird sie - und wenn am Ende alles gut ausgeht, stellt sich die Frage, ob das diesen Roman zu Kinder- bzw. Jugendliteratur macht? Diese fiktive Autobiographie der Beatric Potter ist die Geschichte einer zur Künstlerin sich emanzipierenden Frau der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, ein Bildungs- und Entwicklungsroman, der natürlich geeignet ist als Lektüre belesener Mädchen ab 12 oder 13 Jahren, aber zweifellos ein Gewinn auch für alle übrigen älteren Leserinnen und Leser. Dass der Franzose Philippe Dumas zahlreiche kleine feine Aquarelle beigesteuert hat, soll nicht unerwähnt bleiben, sie waren aber - in der Lektüre des Rezensenten - chancenlos gegen den von Tobias Scheffel hervorragend übersetzten Text und blieben daher farblos. Vielleicht kommen sie im nächsten Lesedurchgang zur Geltung. *ag* Franz Lettner

Altersempfehlung: ab 12 Jahren.


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Personen: Murail, Marie-Aude

MURA

Murail, Marie-Aude:
¬Das¬ ganz und gar unbedeutende Leben der Charity Tiddler / Marie-Aude Murail. Aus dem Franz. von Tobias Scheffel. Mit farb. Bildern von Philippe Dumas. - Frankfurt am Main : S. Fischer, 2011. - 570 S. : Ill.
Einheitssacht.: Miss Charity
ISBN 978-3-596-85443-1 fest geb. : ? 17,50

Zugangsnummer: 2012/2997 - Barcode: 000000012119
Jugendbücher (ab 13 Jahre) - Buch