Thesing, Julius
You don't look gay eine Auseinandersetzung mit homophober Diskriminierung
Buch

Eine der Schwierigkeiten im Kampf gegen all die menschenfeindlichen -ismen und -phobien, die unsere 'aufgeklärte' Gesellschaft prägen, ist vielleicht, dass ihre ausgrenzenden und verletzenden Kommentare selten 'ernst' oder 'persönlich' gemeint sind. Umso effektvoller verschleiert der 'ohne böse Absicht' erzählte Schwulenwitz die strukturelle Natur homophober Diskriminierung. Und umso größer, das zeigt der Künstler Julius Thesing in seinem Sachbilderbuch „You don’t look gay“, ist der Kollateralschaden. Schon der Titel verweist auf einen der Mechanismen alltäglicher Diskriminierung, die Thesing beschreibt: Ein zutiefst homophober Kommentar – denn warum wäre es schlecht, schwul auszusehen, was immer das heißt? – wird von dem/der Sprecher*in gar nicht als solcher (an)erkannt, sondern als Kompliment verkauft. Dabei sagt der Kommentar nichts anderes, als dass dem Angesprochenen, anders als weniger anpassungswilligen oder -fähigen Subjekten, attestiert wird, optimal an die Regeln der heteronormativen Gesellschaft assimiliert zu sein. Letztere wiederum muss sich somit weder mit anderen Lebensrealitäten noch mit den eigenen ausgrenzenden Normen, Vorurteilen und auf Privilegien basierenden blinden Flecken beschäftigen. Thesings eher erzählender und fragender als analysierender oder erläuternder Bericht adressiert diese blinden Flecken und sensibilisiert zugleich für jene Lebensrealitäten und Erfahrungen, die von der hegemonialen Norm gerne ausgeblendet, bagatellisiert, marginalisiert oder individualisiert werden. Dabei verzichtet der bei aller Subjektivität beklemmend zeitdiagnostische Text in Bezug auf Diskriminierungserfahrungen ganz auf Generalisierungen. Gerade der persönliche, beispiel- und bildhafte Stil bietet aber viele Anknüpfungspunkte. „Sofort scanne ich (…) die Umgebung nach möglichen Gefahren“, schreibt Thesing etwa über Situationen, in denen sein Freund in der Öffentlichkeit seine Hand nimmt und er sich fühlt, „als wäre man alleine auf einer Demonstration“. Seine Erfahrungsberichte und Überlegungen erweitert und verdichtet er in oft seitenübergreifenden Illustrationen, in denen die sozialen, psychischen und psychosomatischen Folgen von Diskriminierung ins Zentrum rücken. Ein wirkungsvolles Farbschema aus Schwarz-, Weiß- und Rottönen und ein von klaren Linien geprägter Stil erlauben eine deutliche Bildsprache, die aber durch metaphorische Dimensionen und detaillierte Figurenmimik das Plakative meidet. So zeigt eine Illustration, wie das graphisch individualisierte Opfer von Diskriminierung in einer anonymisierten, lachenden Menge eine potenziell gefährliche Sichtbarkeit erlangt – auf der folgenden Doppelseite dagegen scheint eine zwar mit detaillierter Mimik ausgestattete, aber blassrot eingefärbte Figur in einer Gruppe lachender Individuen in schamvolle Unsichtbarkeit zu verschwinden. Der Text setzt einiges voraus und hält sich nicht mit der Erklärung von Begriffen auf, die einem mit LGBTQ-Diskursen wenig vertrauten Publikum neu sein könnten. Das ist konsequent. Sich auf die Lebensrealitäten anderer einzulassen, einen Perspektivwechsel vorzunehmen, ist eine Haltung, die einen persönlichen Effort, ein aktives Wissen-Wollen erfordert. Wer keiner marginalisierten Gruppe angehört, hat oft nicht gelernt, diese Haltung zu entwickeln; sie zu fördern ist ein zentrales Anliegen vieler, vor allem neuerer Kinder- und Jugendmedien. Im Google-Zeitalter kommt Sachbüchern auch nicht mehr primär die Aufgabe zu, Fakten bereitzustellen. Stattdessen schärfen sie im Idealfall den Blick für die Vielfalt und Komplexität der Lebensverhältnisse. Gerade Thesings so vielschichtige wie lesbare Bilder schaffen die emotionale Basis für ein Wissen-Wollen, das hilft, jene privilegierte Ignoranz zu erkennen und zu überwinden, die alltäglicher Diskriminierung einen so fruchtbaren Boden bereitet.

Altersempfehlung: ab 16 Jahren.


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Personen: Thesing, Julius

Thesing, Julius:
You don't look gay : eine Auseinandersetzung mit homophober Diskriminierung / Julius Thesing. - 1. Aufl. - Münster : Bohem, 2020. - 94 S. : überw. Ill.
ISBN 978-3-95939-094-1

Zugangsnummer: 2023/0728
Erzählungen ab 13 Jahre - Signatur: Ju 3 The - Buch