Frischmuth, Barbara
Die Schrift des Freundes
Buch: Dichtung

Neue Zürcher Zeitung Barbara Frischmuths Roman «Die Schrift des Freundes» beginnt mit einem Traum. Anna Margotti versteht nicht, was dieser Traum «besagen» soll, denn im Wachzustand spricht sie - jung, cool und karrierebewusst, wie sie ist - eine durchaus «andere» Sprache. Als Computerspezialistin, ausgestattet mit einem «eiskalten Programmierungsgehirn unter der rotgelockten Kalotte», kennt sie nur «eindeutige» Informationen; Codes, die früher oder später «geknackt» werden; eine Welt zwischen 0 und 1, die keine Fragen offenlässt. Dagegen nimmt sich die Welt des Traums beunruhigend vieldeutig und rätselhaft aus, und das zunächst schon deshalb, weil darin Schriftzeichen auftauchen, die Anna nicht entziffern kann. Folgenschwerer ist freilich, dass sich auch die Lebensschrift der Protagonistin verwirrt. Die fremden Zeichen des Traums überlagern zusehends die vertraute Textur der Wirklichkeit. Sie infizieren Anna mit einem unbegreiflichen, aber sengenden Gefühl der Sehnsucht, das schliesslich so unabweisbar realitätsmächtig wird, dass es Zweifel über Ursache und Wirkung nährt. Vielleicht, orakelt Anna, ist es nicht der Traum, der die Sehnsucht entfesselt, sondern die Kraft des Sehnens, die zum Träumen verführt? Annäherung an die Gegenwelt Frischmuth legt es auf eine gezielte Durchdringung und Relativierung der beiden Sphären an: was sich in deren Spannungsfeld vollzieht, läuft letztlich auf die Verkehrung der Vorzeichen hinaus, auf eine exemplarische Annäherung an die Gegenwelt des Fremden. Je zugänglicher, «wirklicher» und lebbarer sie sich darbietet, um so fremder, «unwirklicher» und haltloser mutet die Welt des Vertrauten an. Auch wenn das Fremde seine Andersartigkeit zuerst im Traum erweist, ist ihm von Anfang an eine konkrete Realität zugeordnet. Nicht zufällig gibt ihm Frischmuth den bestimmten Namen einer islamischen Minderheitskultur. Die Aleviten, Angehörige einer nichtorthodoxen schiitischen Sekte, die ihre Glaubensvorstellungen von Ali, dem Schwiegersohn Mohammeds, herleiten, gelten selbst in der Türkei, ihrem Hauptverbreitungsgebiet, als subversive Aussenseiter, und dieser Status erscheint im mitteleuropäischen Wien gesteigert und radikalisiert. Dort sind sie doppelt fremd: als Ausländer, denen generell Misstrauen entgegenschlägt, und als ausländische Sektierer, deren Verhalten undurchsichtigen Spielregeln folgt. Die Liebe zu Hikmet, einem jungen Aleviten, macht Anna empfänglich für das Numinose dieser Kultur, doch was die private Empfindung auslöst, reicht über sie hinaus: sie eröffnet letztlich eine völlig andere Weltsicht, einen Zugang zum Leben, der die Routine «westlicher» Lebensführung ausser Kraft setzt und kritisch in Frage stellt. Sinnfällig wird dieser Konflikt in einem weitverzweigten Verweis- und Bezugssystem, das um verschiedenste Ausprägungen von Schrift kreist. «Einfach alles scheint auf Schrift hinauszulaufen», bemerkt Anna, und sie kennzeichnet damit ein Verständnis von Schrift, das weit mehr umfasst als die übliche Festschreibung von Bedeutung. Nicht die abstrakte, unumstösslich «verabredete» Beziehung zwischen Zeichen und Bezeichnetem definiert den Stellenwert des Geschriebenen, sondern die gelebte Erfahrung, die diese Beziehung von Mal zu Mal neu bestimmt und akzentuiert. Solcherart kann den sterilen Zeichenwelten, die Computer und Internet zu riesigen Friedhöfen toter Namen auswalzen, wieder so etwas wie vitale, sinnliche Qualität zuwachsen. Eine Zwischenstellung nimmt dabei die Kunst der Kalligraphie ein, die im Umfeld Hikmets eine zentrale Rolle spielt. «Bei dieser Art Schrift», erfährt Anna, handle es sich «um eine Geometrie des Gemüts, egal mit welchen materiellen Mitteln man sie herstellt». Was in der Kalligraphie angelegt ist, gibt das Muster vor, an dem die Aleviten ihr Leben ausrichten. Schrift ist ihnen kein Medium teilnahmslos-distanzierter «Informationsverarbeitung», sondern Ausdruck eines elementaren Mitteilungsbedürfnisses, das nicht haltmacht vor den Grenzen der Buchstaben: deshalb «lesen» sie in Gesichtern und «schreiben» mit dem Körper, und was dabei entsteht, ist wirkliche Nähe. Seinen Niederschlag findet dieses gegensätzliche Schriftverständnis nicht zuletzt im Liebesleben Annas: Gemessen an der Intensität des Gefühls, das Hikmet in ihr entfacht, nimmt sich ihre ausklingende Beziehung zum aalglatten Ministerialrat Haugsdorff lau und kontrolliert aus. Sie beruht, wie die verabredete Geltung der Zeichen, auf einer «Abmachung», zu deren innerster Konsequenz gehört, dass selbst intimste Situationen medial vermittelt erscheinen: statt Haugsdorff körperlich nahe zu kommen, erzählt ihm Anna aufreizende Geschichten, und so produziert ihr Zusammensein letztlich das Paradox einer gemeinsamen Abwesenheit. Umgekehrt lernt Anna nach und nach, dass der Geliebte nicht unbedingt anwesend sein muss, um die durchdringende Präsenz seiner Körperlichkeit zu entfalten. In einer der überzeugendsten Passagen des Romans, die Frischmuth raffiniert und mit langem Erzählatem vorbereitet, überwindet Annas sehnsuchtsschwangere Vorstellungskraft die reale Abwesenheit Hikmets und bewerkstelligt eine Art höherer Anwesenheit, die sich als Ineinander der Körperschriften realisiert, als hochgestimmtes Loblied auf Berührung und Berührbarkeit: «Hikmet, der sie nie wirklich geküsst hat ( . . . ), berührt mit den Zeigefingern ihre Halsgrube, fährt die Schlüsselbeine entlang, in beide Richtungen, zieht jeweils einen kleinen Kreis als Schleife auf ihren Schultern - was schreibt er ihr ein? -, führt einen Schriftzug auf ihre Brustspitzen zu, tupft sie dreimal an, die Punkte der Verhärtungszeichen, die aus einem B ein P machen ( . . . ) oder aus einem S ein Sch. Ihr ganzer Leib wird in ein Schriftbild gesetzt, über ihrem Nabel kreuzen sich die Abstriche und ziehen sich spiegelverkehrt über die Hüften hinab.» Schlüssige Komposition Frischmuths Roman spricht eine Reihe von Themen an, die auf den ersten Blick wenig miteinander gemein haben. Man kann «Die Schrift des Freundes» als Liebesgeschichte lesen, als kritische Auseinandersetzung mit neuen Informationstechnologien, als politisches Statement zur Situation von Ausländern und Emigranten, als ethnopoetischen Reisebericht über eine fremde Kultur und schliesslich auch als kryptische Reflexion über Sprache und Sprachgebrauch. Dass diese thematische Vielfalt das Ganze des Romans nicht aufsprengt, verdankt sich einer schlüssigen Komposition, bei der dem Metaphernkomplex der Schrift die entscheidende integrative Funktion zukommt. Frischmuth war - abgesehen von ihren experimentellen Anfängen - immer schon eine Autorin, die sich hinter die «Selbstverständlichkeit» ihres Erzählens zurückzog. Mit verhaltener Souveränität organisiert sie auch diesmal wieder die Fülle des Materials. Wie sie ihre Geschichten aufeinander bezieht, aus den Abschattierungen dieser Bezüge den Mehrwert der Differenzierung gewinnt, das Geschehen da und dort unaufdringlich überhöht und zeichenhaft verdichtet: das hat die seltene Qualität einer Gelassenheit, die bloss zuzuwarten scheint, bis sich die Erzählung leichthin und wie von selbst zu Ende erzählt. --Gerhard Melzer-- *amazon.de*


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Personen: Frischmuth, Barbara

Standort: Zell am See

Schlagwörter: Frau Wien Liebesbeziehung Belletristische Darstellung Türkei Türken

Interessenkreis: O Fremde Kulturkreise

DR Romane, Erzählungen FRIS

Frischmuth, Barbara:
¬Die¬ Schrift des Freundes : Roman / Barbara Frischmuth. - Salzburg [u.a.] : Residenz-Verl., 1998. - 352 S. ; 21 cm
ISBN 978-3-7017-1111-6 fest geb. :

Zugangsnummer: 0006890001 - Barcode: 01067309
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